Dienstag, 16. Februar 2010

60

Mir gegenüber steht ein leerer Spiegel. Das Glas ist heraus gebrochen. Er zeigt sein hölzernes Inneres. Der glaslose Spiegel misst etwas mehr als einen Meter Höhe und etwas mehr als eineinhalb Meter an Breite. Das Holz ist massiv. Er ist dreigeteilt. Die Flügel lassen sich nach innen klappen. Meine Handknöchel bluten. Ich blicke umher. Ein leeres Heimzimmer. Der Tisch, der Spiegel, ein Bett. Ein Fenster. Dahinter eine Wiese. Das Gras steht hoch. Es ist bereits gelb. Ideale Nahrung für die Wesen, von denen Großmutter immer erzählte. Ich weiß es jetzt. Ich gehöre zu diesen Wesen. Ich bin einer von Ihnen. Die Kost der Nadelspitzen wurde rar in der Welt, aber es gibt sie noch. Zum Beispiel vor meinem Fenster. Ich werde nicht allein bleiben. Die Wesen warten schon. Meine Großmutter hatte es wohl immer geahnt, dass ich zu diesen Wesen gehöre. Die Wesen kennen die wesentliche Dinge: Ihre Kost. Sie wissen nicht, was Glück oder Unglück ist. Diese Dinge sind Ihnen unwesentlich. Sie haben auch nie von den Einzellern gehört, die vor Jahrmillionen ewig lebten, bis sie dann doch starben, als ihnen die Einsamkeit fremd wurde. Hört ihr, wie die Wesen über solche Dinge lachen. Hört ihr selbst durch das geschlossene Fenster hindurch ihr Lachen. Oder das Lachen über das Gebarme nach Liebe. Die Wesen sind einfach füreinander da. Sie sind beieinander. So einfach ist das. Großmutter erzählte es. Ich erinnere mich wieder ganz genau. Sie sitzt an meiner Bettkante und erzählt von diesen Wesen, die nicht ihren Männern oder Frauen aus dem Weg gehen müssten, um Spaß zu haben, so wie sie es tat, wenn sie sich abends aus dem Haus stahl und durch die Schenken und Spelunken zog. Großmutter steckte sich und mir ein Stück Bitterschokolade in den Mund und sprach von diesen Wesen, die sich von der Kost der Nadelspitzen ernährten. Die in der Wiese lebten. Im Sommer. In der Wärme. Im Hellen. Ich nehme den massiven Spiegel und hebe ihn an. Er ist schwer. Ich schwitze. Die Flügel schlagen mir ins Gesicht. Ich habe große Lust, mich wieder davor zu setzen und weiterhin zu verharren. Mit fehlt die Frau Kommissarin. Ich hätte gerne ihren Rat. Aber ich setze mich nicht. Ich hebe den Spiegel in einem zweiten Versuch hoch. Ich hebe ihn vom Tisch. Er ist zu schwer. Ich setze ihn auf dem Stuhl ab. Ich schnaufe. Mein Rücken schmerzt. Die Hand blutet. Es pocht in meiner Brust. Aber in mir steigt etwas Wohliges auf. Eine Zuversicht. Eine Kraft. Das Hirn benebelt sich ein bisschen und hört auf zu denken. Es richtet sich nur noch aus. Es sagt, nimm diesen verdammten Spiegel. Ich nehme diesen verdammten Spiegel. Hebe diesen verdammten Spiegel hoch. Ich hebe diesen verdammten Spiegel hoch. Strecke dein Kreuz durch. Ich strecke mein Kreuz durch und eine Erleichterung überkommt mich wie die, die man erlebt, wenn man sich ins Bett legt. Trage diesen verdammten Spiegel zum Fenster. Ich trage diesen verdammten Spiegel zum Fenster. Stemme diesen verdammten Spiegel über deinen verdammten Kopf. Ich stemme diesen Spiegel über meinen verdammten Kopf. Wirf diesen Scheißspiegel durch das Scheißfenster. Ich werfe diesen Scheißspiegel durch das Scheißfenster. Bravo. Der Spiegel durchschlägt das Fenster und das Gitter dahinter. Ich spüre in meinem Gesicht den Wind. Ich höre das Rauschen der Halme. Ich werde durch dieses verdammte Scheißfenster steigen, in die Wiese gehen, die Wesen finden und wir werden die Nadelspitzen verkosten. Großmutter wird nicht gelogen haben.


Die Kost der Nadelspitzen 60 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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