Dienstag, 16. Februar 2010

25

Als ich Kind war, träumte mir eines Nachts: Jan und ich sind im Flur unseres Hauses. Jan telefoniert. Damals hing das Telefon noch im Flur an der Wand. Ich wollte nach draußen auf die Straße. Draußen war es sehr hell, die Sonne schien. Ob dort jemand auf mich wartete, weiß ich nicht mehr. Ich glaube aber schon. Der Flur hingegen teilte sich in einen hellen Bereich, den vorderen, in dem Jan telefonierte, und einen dunklen, den hinteren. Ich trat in den dunklen ein und gänzliche Schwärze umhüllte mich plötzlich. Ich verlor jede Orientierung und hatte das Gefühl, dass etwas Böses mich umgab; dass hier der Teufel auf mich lauerte. Gänsehautschauder liefen mir über den ganzen Körper bis in die Finger- und Zehenspitzen. Das Licht draußen war zu einem winzigen Punkt geschrumpft und dann verschwunden. Ich tastete um mich her und konnte keine Wand und keinen Boden mehr erhaschen. Ich erwachte. Ich fühlte nicht Angst, sondern die Anwesenheit eines Anderen, vielleicht dieses Bösen, Dunklen, Teuflischen. Ich war nicht alleine. Die Schauder elektrisierten noch immer meine Haut. Ich wagte nicht mich zu bewegen. Ich schaltete kein Licht an. Nur meine Augen bewegten sich hin und her und loteten das dunkle Zimmer aus. Ich konnte die Umrisse des Fensters wahrnehmen und die Konturen des Regals an der Wand. Das Böse war nicht in mich gefahren, aber es war da. Ich hatte seine Bekanntschaft gemacht. Ich wusste nun: in ihm gab es keinen Halt. In ihm verlor man die Orientierung. Es zog einem den Boden unter den Füßen weg. Man spürte es auf der Haut. Man hatte kein Inneres mehr. Man wurde zu einer Hülle. Zur reinen Oberfläche. Ich war nicht mehr Kind gewesen. Ich war nicht mehr ich gewesen. Ich war lediglich noch dieses Kribbeln. Ich hatte nicht um Hilfe rufen können. Ich hatte nichts sagen können. Ich hatte keine Stimme mehr. Ich war kein Atmen mehr. Mir gefroren nicht das Blut in den Adern und das Mark in den Knochen, denn da war kein Blut und da war kein Mark mehr, geschweige denn Adern und Knochen. Ich wusste, Jan hatte nichts mitbekommen, er telefonierte, als sei es wie alle Tage. In der Dunkelheit hatte es ihn nicht mehr gegeben. Hatte es das Haus nicht mehr gegeben. Nach diesem Traum blieb in mir eine Vorsicht. Und die Erkenntnis, Jan und ich waren verschieden. Wäre ich vielleicht wie er gewesen, hätte mich diese Dunkelheit nicht eingenommen. Hätte ich den Boden unter den Füßen nicht verloren. Hätte ich vielleicht auch mit jemandem telefoniert. Wäre ich sachlich geblieben. Dinghaft. Aber durch mich konnte von nun an der Wind hindurch gehen. Jener Hauch, der einem die Nackenhaare sträubt. Der einen glauben lässt, jemand steht hinter dir und flüstert dir etwas zu, und du kannst es nicht verstehen, aber du weißt, es sind keine Worte der Liebe. Sie sind eher wie Großmutters Geschichten. Wie die Angst vor Vaters Schlägen. Wie der Rauch aus Mutters Zigarette, wenn sie unansprechbar aus dem Fenster schaut. Alle diese Dinge wären sogar noch tröstlich gewesen. Denn in dieser Dunkelheit gab es das alles nicht mehr. Da gab es nur mich und jenes Unendliche. Vielleicht hätte ich nicht Anatom sondern Astronom werden sollen. Vielleicht hatte ich nur die Worte verwechselt. Was weiß ein Kind schon.


Die Kost der Nadelspitzen 25 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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