Dienstag, 16. Februar 2010

45

Mutter und Vater wären, hätten sie den Mut gehabt, zu ihrem eigenen Willen zu stehen, das ideale Paar füreinander gewesen. Sie hätten ihn, den Willen, nur aussprechen müssen. Sie hatten instinktiv richtig gewählt. Man wählt immer, da bin ich von überzeugt, Frau Kommissarin, richtig, wenn man auch zumeist nach der Wahl nichts anderes als das Falsche tut. Leider haben die beide ihren Instinkt verflucht und die Strafe für diesen Fluch dem jeweils anderen als schwermütiges oder beleidigtes Schweigen auferlegt. Beide hatten ihren Willen nicht gewollt. Mutter wollte begehrt sein und Vater wollte begehren. Doch sie erlaubten es sich nicht. Sie verboten es sich. Aus Scham voreinander. Und die Gründe dafür stellten sich im Nachhinein schnell genug ein. Man treibt sich einander dem Abgrund zu. Aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls war das ihre Lehre für uns: Den eigenen Willen nicht wollen; so dass dieser Wille dann auch nicht mehr will, was er wollte. Irgendwann konnten die beiden nicht mehr wollen, was sie wollten. Und wir werden es auch nicht können, solange wir vor ihnen davon laufen, statt uns von ihnen, wie es so schön heißt, zu lösen. Frau Kommissarin, die Leiche meiner Kindheit, die ich hier seziere, trägt noch ihre Nabelschnur am Bauch. Aber auch sie wird meinem Skalpell nicht standhalten. Und dann mit der Leiche entsorgt werden. So wahr ich ihr Anatom bin. Werde ich je Kinder haben, sollen sie Ana und Tom heißen. Warum lachen Sie denn nicht, Frau Kommissarin.


Die Kost der Nadelspitzen 45 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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