Dienstag, 16. Februar 2010

21

Unser Haus und die Häuser meiner Großeltern, väterlicher wie mütterlicherseits, standen nicht weit des Westwalls. Der Westwall verlief hinter dem Grundstück der Ofenschmidts. Auch Vater war in seinem Krieg in Frankreich. Deshalb hat ihn Mutter wahrscheinlich kurz nach dem Krieg geheiratet. Er war sogar weiter als Verdun gekommen. Er hatte das Meer gesehen. Er zog nicht von Schützengraben zu Schützengraben. Er lief einem Zug voller Waffen nach. Er hätte diesen Zug bewachen sollen. Doch wie immer in seinem Leben war er zu spät und der Zug schon abgefahren. So folgte er ihm von Bahnhof zu Bahnhof. Trank in den Bahnhofskneipen Rotwein. Ich sehe ihn Rotwein trinken. Vater hat immer gerne Rotwein getrunken. Ich sehe ihn nicht in Uniform. Vater trug immer eine Baskenmütze. Ich stelle mir vor, dass er seine Uniform in seinem Seesack versteckt hatte. Vater, sagte ich es schon, war bei der Marine. Auch wenn er nicht schwimmen konnte. Auch wenn er einem Zug und keinem Schiff hinterher lief. Einem Zug voller Waffen, die er beschützen sollte und die ihn beschützen sollten. In diesem Krieg, der nicht der seine war. Vater saß in den Bistros und parlierte mit dem Feind auf Französisch. Vater hatte immer behauptet, er würde diese Sprache sprechen. Wir haben ihn nie in dieser Sprache sprechen hören. Vaters Sprache war eine Mischung aus Geschrei und Schweigen. Entstanden wohl, als er dem Zug hinterher schrie, er solle doch bittschön warten. Aber er sah stets nur die Schlusslichter. Da hatte er sein Glas Rotwein noch nicht ausgetrunken. Da hing seine Baskenmütze noch am Haken neben dem Eingang des Bistros. Da zitterten seine Beine noch aus Angst, seine neuen Freunde könnten in ihm den Feind erkennen. Den Verantwortlichen für einen Zug voller Waffen, die dazu gedacht waren, sie, die neuen Freunde, zu erschießen. Vater sagte immer, traue niemandem. Und käme ein neuer Führer, würden ihm alle wieder hinterher rennen. Vater trank sich von Bahnhofsbistro zu Bahnhofsbistro dem Zug voller Waffen hinterher. Als er ihn fast eingeholt hatte, war der Krieg vorbei. Wenn Vater nachts in der Küche saß – und er saß immer bis spät in der Nacht in der Küche –, versuchte er wach zu bleiben. Er trank große Tassen voller schwarzen Kaffees. Er wollte die Abfahrt des Zuges nicht vergessen, den Zug nicht verpassen. Für ihn war der Krieg nie vorbei. Er schrie sein Leben lang dem Zug hinterher. Er blieb sein Leben lang unbewaffnet in Feindesgebiet. Auch wir waren der Feind. Auch wir sollten nicht merken, dass er der Feind war. Er versuchte unsere Sprache zu sprechen. Er konnte uns nicht täuschen, wie er wahrscheinlich die Franzosen nicht hatte täuschen können. Aber was hatten die Franzosen machen sollen. Ihr Land war nun mal besetzt. Sie konnten ja nicht wissen, dass Vaters Zug längst abgefahren war. Wir wussten auch nicht, dass sein Zug längst abgefahren war. Wir dachten, er sei bewaffnet. Wir hielten ihn für gefährlich. Wir glaubten manchmal sogar, er würde uns beschützen. Ja, Frau Kommissarin, ich dachte, er könnte mich beschützen. Ich dachte, er habe in seiner stets verschlossenen Aktentasche seine Waffen, mit denen er die Feinde abwehren würde. Mit denen er die Feinde abgewehrt hätte. Schließlich kamen keine Fremden in unser Haus. Schließlich trug er tagtäglich seine Baskenmütze. In einer Nacht musste Mutter entdeckt haben, dass er keine Waffen hatte. Sie hieß ihn einen Feigling. Einen, der sich drücke. Einen, der kein Mann sei. Frau Kommissarin, wir genügten ihr nicht als Beweis. Ich bitte dies festzuhalten: dass ich nicht als Beweis tauge. Es wäre der Sache auch nicht dienlich, wenn der Anatom als Beweis herhalten müsste. Ich müsste dann wegen Befangenheit entlassen werden. Ich wäre dann raus aus dem Fall. Aber soll ich Ihnen was verraten. Ich habe den Zug mit den Waffen doch noch gefunden. Und soll ich ihnen noch was verraten? Die Waffen taugen wunderbar als anatomisches Werkzeug. Kriege werden ja keine mehr geführt. Heute weiß ich nicht, ob Vater das je kapiert hat. Dass der Krieg nach Kriegsende nicht weiter gegangen ist. Dass der Zug bei mir unterm Bett zum Stehen gekommen ist. Dass der Zug und sein Personal nur darauf warteten, dass er sie endlich nach Hause schickte. Ich glaube Mutter wollte das aber nicht. Warum? Wie soll ein Kind das wissen. Der Zug steht heute bei Astrid im Regal. Als wir aus dem Haus raus mussten, wurde der Zug gefunden und Astrid wollte ihn unbedingt haben. Vielleicht war er immer schon nichts weiter als ein Spielzeug, mit dem nie gespielt wurde. Astrid hat keine Kinder. Astrid lebt allein. Astrid spielt nicht. Sie bewacht nun den Zug. Glaube ich. Weiß ich nicht. Oder ist das dann doch eher dummes Zeug. Erklärungsversuche eines verschonten Glückskindes, das nicht wie Vater und Großvater im Krieg war. Unanatomisches. Verzeihen Sie, Frau Kommissarin. Aber Sie mit Ihrer Waffe. Sie sind doch auch so was wie ein Soldat.


Die Kost der Nadelspitzen 21 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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