Dienstag, 16. Februar 2010

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Vater fährt Auto. Mutter schreit: Johann. Vater schreit: Thea. Ich sitze auf dem Rücksitz. Wo Jan und Astrid sind, weiß ich nicht mehr. Vater fährt eine enge Allee entlang. Die Bäume sind groß und alt. Platanen. Wie überdimensionale Lutscher. 50-mal mich übereinander. Die Blätter wie Hände. Scharf und spitz. Ich sehe mich meine Platanenblatthand in den Bauch einer Katze rammen. Daraus spritzt der Himbeersirup, den Vater selbst machte. Vater sieht die Landschaft nicht. Er sieht Vergangenheit. Erzählt von vor 20 oder 30 oder 50 Jahren. Von vor dem Krieg, von während des Krieges, von nach dem Krieg. Mutter träumt. Sie sieht die Landschaft nicht. Nicht die Wiesen, über die ich mich radeln sehe. Die Platanenblatthände fest an der Lenkstange. Die nackten Füße schleifen durchs grüne, nasse Gras. Tropfen fallen von den Zehen herab. Mutter schreit wieder: Johann. Vater schreit noch einmal: Thea. Aus den Bäumen fliegen Krähen auf. Die Allee ist sehr eng. In der Erinnerung ist es, als sei mir damals gewesen, wie führen durch ein fremdes Land. Mutter fragt, was sie morgen zu essen machen soll. Vater sagt, dass die Platanen gefährlich seien. Autos seien dagegen gefahren und die Menschen in den Autos verbrannt. Mutter sagt, sie wolle nicht schon wieder Nudeln und Gulasch machen. Ich schlecke in Gedanken an meinen Platanenblattfingerzacken und aus meinem Mund tropft Himbeerzungensirup. Siehst du Vater, auch ich kann Sirup machen. Siehst du Mutter, mach doch etwas mit meinem Himbeerzungensirup. Das Kind auf der Wiese ist verschwunden. Jetzt steht da eine Kuh und rupft Gras mit ihrer Zunge aus dem Boden. Oder war es ein pissendes Pferd. Oder doch nur eine Krähe. Oder bin ich auf dem Rücksitz eingeschlafen. Diese Sonntagsausflüge hielten nicht lange an. Zuhause hatte ich dann wieder kleine, weiche Knubbelfinger, die wehtaten, wenn ich draufbiss. Unten in der Küche schnarchte Vater. Mutter seufzte. Namenlos. Ich versuchte mir die Bäume ins Gedächtnis zurück zu rufen. Oder mich an den Geschmack des Himbeersirups zu erinnern. Oder herauszufinden, ob die Katze geschrieen hat und ob nicht doch diese kleine Döschen mit den bunten Bonbonpillen aus ihrem Bauch gekullert waren, als ich meine Platanenblatthand hineingestoßen hatte. Waren es überhaupt Platanen? Aber wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich manchmal anstelle meiner Augen Platanenkugelfrüchte hinter meiner Brille. Grün und stachelig und hervorgetreten, als hätte das Spiegelbild die Basedow’sche Krankheit. Ich habe wirklich vieles, aber die habe ich nun nicht. Glauben Sie mir bitte.


Die Kost der Nadelspitzen 10 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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