Dienstag, 16. Februar 2010

24

Und dann, mitten im Sommer, kam mein erster Schultag. Jan ging ab diesem Tag aufs Gymnasium. Das Gymnasium war in der Stadt. Er durfte jetzt jeden Morgen mit dem Bus fahren. Mit vielen anderen Schulkindern. Jan fand ab diesem Tag die Kinder aus dem Dorf doof und spielte nicht mehr mit mir. Jans bester Freund fand von nun an Jan doof, da er, der beste Freund, nicht aufs Gymnasium ging, sondern auf eine andere Schule in einer anderen Stadt mit anderen Kindern, die später alle einmal ein anderes Leben leben sollten. Ich war nie in den Kindergarten gegangen. Gespielt haben wir auf der Straße oder in Ofenschmidts Wald, den man uns verboten hatte. Auch weil hinter dem Wald eine Bunkerruine stand. Die war strengstens verboten für uns. Also waren zumindest meine Geschwister oft dort. Mich hatten sie einmal mitgenommen. Fette Risse in grünlichem Beton. Rostige Stahlstäbe ragten in die Luft. Manche davon übel verborgen. Zwischen den Betonwänden lagen kaputte Flaschen, zerrissene Zeitschriften, Klopapier und sonstiger Abfall. Wenn man Glück hatte, konnte man eine Ratte sehen. Oder eine tote Katze. Astrid erzählte, sie hätten einmal einen erhängten Hund gesehen. Die Leine sei an einem der Stahlstäbe hängen geblieben. Fliegenschwärme wären vom Kopf aufgeflogen, als sie einen Stock nach dem Hund geworfen habe. Ich stellte mir den Hund schwarz und mit glänzendem Fell vor. Inmitten der Zerstörung habe etwas Schönes von der Decke gehangen. Etwas Edles und Stolzes. Die Flügel der Fliegen hätten das Fell wie Pailletten verziert. Im Luftzug habe der Körper sich langsam hin und her bewegt. Auch wenn ich den Hund nie gesehen habe, wurde er zu meinem persönlichen Schatz, den ich mir Abend für Abend vorstellte. In meiner Fantasie stand ich nahe bei ihm und überlegte, ob ich ihn nicht anfassen, ihn streicheln und klopfen sollte. Aber ich traute mich nicht. Abend für Abend wurde die Aufregung größer, wurde ich nervöser und in meiner Fantasie zitterten meine Hände und wurden meine Knie weich wie Pudding. Ich öffnete dann meine Augen und hielt mir in meinem Bett meine Finger vor meine Augen und überprüfte, ob die Finger tatsächlich zitterten. Aber ich konnte sie ganz ruhig halten. Nichts verriet mich. Niemand konnte sehen, woran ich dachte. Dass ich an den Hund und an die Fliegen und an den Bunker und an das dreckige Klopapier auf den zerfallenden Bunkertreppenstufen dachte. Dass in meinem Bauch so ein Gefühl war, wie ich es auch beim Karussellfahren gespürt hatte. Als stülpte sich die Bauchdecke nach innen ein und als drücke sie das, was im Bauch ist, nach oben, und als wärme das, was da nach oben gedrückt wurde, das Herz, so ein gemaltes Herz, wie ich es aus dem Fernsehen kannte oder wie ich es auf Astrids Heften gesehen hatte und von denen Astrid gesagt hatte, sie stünden für schöne Gefühle und dafür, dass dich jemand warm halte, wenn es in dir ganz kalt ist. Am Morgen meines ersten Schultages war ich früh aufgestanden. Ich saß in der Küche am Tisch, Mutter hatte mir ein Marmeladenbrot und ein Glas Saft hingestellt. Sie war mit ihrem Frühstück schon längst fertig und schaute nur ab und zu in der Küche vorbei und sagte, ich solle nicht träumen. Ich träumte nicht. Ich konnte mir den Hund nicht vorstellen. Ich konnte mir an diesem Morgen überhaupt nichts vorstellen. Das Brot schmeckte nach nichts. Die Marmelade schmeckte nach nichts. Der Saft schmeckte nach nichts. Mich würgte. Ich sagte mir, das darf sie nicht merken. Mutter kam und sagte, bist du immer noch nicht fertig. Draußen schien die Sonne. Ich nahm die Schultasche. Darin war ein Päckchen mit blauen und roten Stäben. Ein Mäppchen mit Stiften und einem Füller. Ein Heft mit Linien für Erstklässler. Mutter kämmte mir noch einmal die Haare. Ich tat so, als wäre ich schon oft zum ersten Mal in die Schule gegangen. Als wäre dieser Morgen völlig normal. Ich spielte das nach, was ich bei Jan und Astrid gesehen hatte, wenn sie morgens zur Schule gegangen waren. Noch während Mutter mir die Haare kämmte, sagte ich, wir müssen los. Jan hatte das oft gesagt. Er müsse nun los. Er war an diesem Morgen schon aus dem Haus gegangen, als ich noch im Bett lag. Ich hatte seinen Wecker gehört. Ich hatte gesehen, wie er aufgestanden ist. Ich hatte mich schlafend gestellt. Ich habe mich dann von Mutter wecken lassen. Ich hatte sie zur Tür reinkommen sehen und schnell wieder die Augen geschlossen. Sie blieb vor dem Bett stehen und sagte mit lauter Stimme, wach endlich auf, es wird Zeit. Ich sah das Schild, das Jan über seinen Tisch gehängt hatte. Jan hatte gesagt, da stehe drauf, dass lernen Spaß mache. Großmutter war an diesem Morgen nicht da. Großmutter war in der Woche zuvor zu Besuch da gewesen. Großmutter hatte gesagt, in der Schule müsse man ganz brav sein und still sitzen. Ich hatte still sitzen geübt. Ich hatte mich auf einen Stuhl gesetzt und gewartet. Das war also Schule. Frau Kommissarin, es kommt mir so vor, als hätte ich schon gewusst, was Zeit ist, als hätte ich schon die Uhr lesen können; als hätte ich schon lesen können, was auf Jans Schild stand. Ich weiß, dass ich es nicht konnte. Ich hatte so kleine Blöcke, in die ich malte und in die ich schon, das weiß ich, meinen Namen schreiben konnte, ein krakeliges Hans. Denke ich zurück, sehe ich mich nicht als Kind, sondern als einen alten Mann, älter fast als jetzt, da ich wirklich alt bin. Ich sehe mich mit Müh und Not die Treppe runtergehen. Ich halte mich am Geländer fest, die Beine wollen nicht mehr so. Die Vorstellung des toten Hundes hat nichts Schönes mehr, da ich inzwischen verwesende Kadaver zu genüge gesehen habe. Da ich inzwischen den Geruch kenne. Ich sehe mich frühstücken und schwer an dem Brot kauen, da ich keine Zähne mehr habe. Ich sehe mich verwirrt, da ich mich nicht mehr daran erinnere, was für ein Tag ist und warum ich aufgestanden bin. Eine junge Frau sagt zu mir, ich müsse in die Schule und ich kann das kaum glauben, da ich doch ein alter Mann bin und die Schule schon viele Jahrzehnte zurück liegt. Aber die Frau befiehlt, keine Widerrede und los jetzt. Ich möchte mich auf den Arm der jungen Frau stützen, aber sie stößt mich von sich und fragt in kaltem Ton, was soll das. Jetzt lauf zu, du dummer Bub, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Und alles tut weh, doch dann spüre ich nichts mehr. Ich habe vergessen, was Schmerz und was Schmerzen sind. Ich ziehe mir unter großer Anstrengung den lächerlichen Schulranzen auf den Rücken. Die junge Frau sagt, dass ich die Schultüte nicht mitnehmen dürfe und dass ich mir erst wieder etwas aus der Schultüte nehmen dürfe, wenn ich in der Schule brav gewesen sei und der Lehrer sich nicht beklagt habe. Ich denke mit Schaudern daran, dass Großmutter sagte, Schule sei stillsitzen. Ich kann im Alter nicht mehr stillsitzen, ich kann höchstens liegen und bezweifele, dass man in der Schule liegen darf. Die junge Frau treibt mich an, wir laufen die Straße hinunter zu der Kreuzung. Ich erinnere mich dunkel an den Weg. Die Frau sagt, merke dir den Weg, denn ab morgen gehst du ihn alleine. An der Kreuzung steht ein großer Kübel und in dem Kübel wächst ein großer Strauch und an dem Strauch hängen seltsame Zapfen. Denke ich daran zurück, liegt über allem ein pastellfarbener Schleier, als habe jemand Tee über die Bilder geschüttet und alles habe sich verfärbt oder sei vergilbt. Und doch spüre ich das Nichts, das ich an jenem Morgen gespürt habe, als würde ich immer noch laufen; als stünde ich gerade neben dem Kübel und als schärfte mir Mutter gerade ein, dass ich nicht über die Straße rennen dürfe, dass ich auf die Autos achten müsse und dass ich erst am Zebrastreifen über die Straße gehen dürfe. Ich sehe mich neben Mutter auf dem Gehweg laufen. Wir laufen an der Bäckerei vorbei. Wir sagten nicht Bäckerei, sondern bei Gretel. Bei Gretel kaufte ich mir Süßigkeiten. Gretel war eine dicke Dame, die immer lachte und immer nach Schweiß roch und die dicke Büschel von Haaren unter den Armen hatte. Einmal fragte ich sie nach den Ofenschmidts und dem alten Gildenstern. Da lachte sie nicht mehr, wurde ganz verkniffen und der Hals schwoll ihr an. Der alte Jud u. seine Bagage, dieses Ungeziefer, haben gekriegt, was sie verdient haben. Sagte sie. U. verbot mir, von denen, dem rabulistischen, blutsaugenden Gesindel, wie sie sagte, noch einmal in ihrem Laden zu sprechen. Ich fragte später Mutter, was Gretel gemeint hätte. Mutter, die doch laut Großmutter, mit der Ofenschmidt befreundet gewesen war, winkte, ebenso verbissen, ab u. sagte: Die Leut’ muss man reden lassen. Frau Kommissarin ich sollte das, was Gretel gekeifert hatte, noch oft hören. U. immer sagten die Leute, man müsse die Leut’ reden lassen. Auch wenn ich damals nicht verstand, Frau Kommissarin, hätte ich, auf den doch das Haus der Ofenschmidts so eine magische Anziehung hatte, der fetten Kuh am liebsten in den Laden gekotzt. Also, Frau Kommissarin, sagen sie mir nie, man müsse die Leut’ reden lassen, wenn nur Dummheit u. Scheiße aus ihnen quillt, sonst kotze ich ihnen astrein vor die Füße. Mich würgt Ihr Schweigen schon heftig genug. Wenn sie hätten reden sollen, haben alle, Sie und auch Mutter und Vater und Astrid und Jan, nämlich immer und immer nur geschwiegen. Geschwiegen wie dummes Vieh. Anklagend geschwiegen u. so beschissen klug geschaut dabei. Das ist das allerperfideste daran. Mir ist dadurch ihr Schweigen im Hals stecken geblieben u. nahm mir die Luft. Aber damit ist jetzt Schluss, Frau Kommissarin. Ich huste ihnen, und Ihnen auch, Frau Kommissarin, ihr dummes Schweigen zurück in ihre saudummen Fressen. Ich will es nicht. Vielen Dank auch. Über jeden Scheiß echauffieren sich die Leut’. Nur wo sie gefragt sind, halten sie die Fresse. Aber ich will mich hier nicht auch echauffieren. Ich will weiter reden. Gegen falsches Schweigen, gegen falsches Geschwätz, gegen falsche Anteilnahme, gegen die Anteil nehmende Frage des korrekten Passanten an denjenigen, der auf der frisch geputzten Straße kniet u. gerade abgeschlachtet werden soll, ob er es denn auch bequem habe und sich auch nicht schmutzig gemacht u. sich nicht verkühlt habe u. ob er das Wetter u. den Hunger in Afrika auch so schlimm finde; aber auch gegen die höfliche Bitte des Misshandelten u. Missbrauchten, bitte bitte einzusehen, dass das alles doch nicht so schlimm war u. man zukünftig schweigen möge. Dass doch überhaupt nichts geschehen sei. U. dass die, die sich wehren, doch viel schlimmer seien u. es nur viel schlimmer machten. Dass man die Armen, die darunter leiden müssten, gar nicht genug bedauern könne u. so weit u. so fort, bis man vor lauter Geschwätz tatsächlich beinahe alles vergessen hätte, stünde da nicht so ein seltsamer Hass in den Augen, der mir droht, mich auf ewig zu verfluchen, stellvertretend sozusagen. Nun gut. Frau Kommissarin, ich fahre ja fort in meinem Bericht, in meiner Anatomie, sie können Ihre Hände wieder von Ihren Ohren nehmen. Sie können wieder beruhigt atmen. Sie können diesen Hass aus Ihren Augen nehmen.

Dann laufen wir an der Gaststube vorbei, in der wir Vaters Geburtstag gefeiert hatten. Ein einziges Mal. Ich erinnere mich an das Schnitzel und an die Pommes, die ich gegessen hatte und an den Salat, der mir nicht geschmeckt hatte. Vater hatte Streit mit dem Kellner bekommen und Mutter hatte viele Zigaretten geraucht und Jan und Astrid spielten Tischfußball und ich durfte nicht mitspielen. Dann liefen wir an der Metzgerei vorbei. Bei Leo. Ich dachte damals, der Name käme von der Lyonerwurst, von der er mir immer ein Stück gab, wenn Mutter mich zum Einkaufen mitgenommen hatte. Leo war ein dicker Kerl mit Glatze und ganz roten Händen. Einmal hatte mich Großmutter mitgenommen und ich hatte sie dann nach den roten Händen gefragt. Sie hatte geantwortet, dass das vom Blutwurstmachen komme. Großmutter liebte Blutwurst und sie hatte mir oft Stücke von ihrer Blutwurst abgeschnitten und in den Mund gesteckt. Ich mochte Blutwurst. Ich fragte Großmutter, aus was man denn Blutwurst mache. Sie lachte übers ganze Gesicht, das sonnengegerbt unter ihrem Kopftuch hervorstrahlte: na, natürlich aus Blut. Ich hatte das für einen Witz gehalten. Aus Blut? Ab diesem Tag aß ich für viele Jahre keine Blutwurst mehr. Und auch keine Blutorangen. Die konnten mir erzählen, was sie wollten. Für mich war klar, dass die auch aus Blut gemacht wurden. Ich lass mich doch nicht zweimal verarschen. Ich sah die roten Finger von Leo aus Blut rote Bälle formen. Woher das Blut stammte, wollte ich mir nicht vorstellen. Mir war schon speiübel genug. An diesem Morgen gingen wir nicht zu Leo hinein. Ich glaube, ich sah ihn hinter seinem Schaufenster stehen. Ich bin mir aber nicht mehr sicher, Frau Kommissarin. Plötzlich komme ich mir wieder ganz klein vor. Und es ist mir, als habe mich Mutter getragen. Als sei ich noch ein Baby gewesen. Als habe sie die Tasche über ihre rechte Schulter gehängt und als habe sie mich auf dem linken Arm getragen und als habe ich noch nicht sprechen können und als wüsste ich nicht, wohin sie mich trage. Ich schließe die Augen und versuche mir meinen ersten Schultag vorzustellen und sehe mich also als dieses Baby und ich sitze auf Mutters Arm oder auf dem Arm einer Frau, die Mutter sehr ähnlich sieht, und ich kenne die Umgebung nicht mehr und ich schließe die Augen und schlafe ein. Sie glauben mir nicht, Frau Kommissarin? Ich solle nicht so einen Unsinn erzählen, das bringe Sie bei ihren Ermittlungen nicht weiter? Können Sie sich noch an Ihren ersten Schultag erinnern? Wie, das spiele hier keine Rolle und die Fragen würden Sie stellen? Na, ich bin doch nicht der Angeklagte. Ich bin Ihr Mitarbeiter. Bzw. war ich Ihr Mitarbeiter viele Jahre lang. Wir haben zusammen ermittelt. Haben Sie das vergessen. Wir hatten uns nicht beirren lassen und uns nicht an die Anweisung gehalten, die Akten zu schließen. Ich bitte Sie also, die Akten weiterhin nicht zu schließen. Wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Und wenn ich als alter Mann zu meinem ersten Schultag gegangen bin, ist das auch eine Möglichkeit. Glauben Sie mir. Ich sehr also diese junge Frau und mich als uralten Mann über die Straße gehen. Ich sehe mich als Kind hinter meiner Mutter die Straße überqueren. Die Autos halten am Zebrastreifen und ein Fahrer winkt mir zu. Wir biegen in die Straße zum Bahnhof ein. Mutter erzählt, Jan habe sich an seinem ersten Tag mit Händen und Füßen gewehrt und habe geschrieen und sie habe ihn quasi hinter sich herschleifen müssen. Ein Wunder dass er seine Kleider nicht kaputt gemacht habe. Ich kann mir den stillen, dünnen, klugen und stets so vernünftigen Jan nicht schreiend und sich wehrend vorstellen. Ich dachte, er wäre in die Schule gerannt und habe sich den besten Platz gesucht noch vor allen anderen, also sogar noch bevor der Lehrer überhaupt anwesend gewesen wäre und hätte schon alles an die Tafel geschrieben, was der Stoff des ersten Jahres beinhaltet hätte. Von Astrids erstem Tag erzählte Mutter nichts. Wahrscheinlich aß sie die ganze Zeit Bonbons. Oder sie bürstete sich auf dem ganzen Weg ihre Haare. Außerdem hatte sie sich wahrscheinlich nicht bei den Händen nehmen lassen. Ich weiß, dass sie es absolut nicht mochte, wenn man sie bei den Händen nahm. Niemand durfte sie bei den Händen nehmen. Sie fing dann an zu schreien. Ich schrie nicht. Ich sagte, als Mutter von Jan erzählte, ja, der Jan. So ist er. Weiter sagte ich nichts. Weiter fiel mir nichts ein. Ich überlegte die ganze Zeit, ob ich auch nichts vergessen hätte. Ob auch ja nur alles in meiner Tasche sei. Ich hätte am liebsten angehalten, den Ranzen vom Rücken genommen und nachgeschaut. Aber Mutter hielt meine Hand fest und ich hatte nicht das Gefühl, sie zum Anhalten bringen zu können. Ich konnte ihr kaum folgen, ich hing an ihrer Hand und stolperte hinterher. Sie zog mich wieder neben sich und sagte, jetzt mach dich halt nicht so schwer. So gingen wir über den Damm. Auf dem Wasser schwammen ein paar Schwäne. Dann bogen wir in die Straße zur Schule ein. Frau Kommissarin, es tut mir Leid, aber jetzt sehe ich nur noch meine Mutter. Ich sehe sie alleine gehen. Sie ist auch wesentlich älter. Mit verschränkten Armen läuft sie diesen Weg entlang. Ich weiß, dass sie mich dabei haben muss. Aber ich sehe mich nicht. Ich bin verschwunden. Ich sehe meine Mutter von oben. Ich schwebe über ihr. Ich fliege wie ein Ballon, den man ihr an das Handgelenk gebunden hat. Ich glaube, Mutter weint. Ich habe Mutter nie weinen sehen. Ich hatte sie schreien hören. Aber nicht so weinen, wie Astrid mitunter weinte. Eher so wie ich, wenn ich hingefallen war und meine Knie bluteten. Ich schwebte als unsichtbarer Ballon über ihr und sah über die Dächer der Häuser. Ich sah, wie ein Schwan vom See aufflog. Wir waren auf gleicher Höhe. Er flog direkt auf mich zu und so nah an mir vorbei, dass ich den Lufthauch spürte und das Karussellbauchgefühl bekam. Ich trudelte im Wind und zog an der Schnur, die an Mutters Handgelenk befestigt war. Ich war selbst ein Lufthauch und ich war dieses Karussellbauchgefühl. Ich war nur dieses Gefühl und alle Menschen waren weit unter mir. Die Straßen waren kleine dunkle Striche zwischen roten Flecken. Der See war ein dunkler Klecks neben grünen Tupfern. Meine Mutter war eine Nadelspitze inmitten dieser Kleckse und Flecken und Tupfer. Ein Windstoß presste mich hinab zu ihr und ich stieß gegen diese Nadelspitze und ich platzte und hatte großen Druck in den Ohren und stand plötzlich wieder neben ihr. Sie sagte, wir sind da, jetzt suchen wir deine Klasse. Viele Kinder liefen über den Hof. Ich kannte keins davon. Kein Nachbarskind fing heute mit der Schule an. Jan und Astrid gingen aufs Gymnasium. Die Kinder standen in kleinen Grüppchen.

Mir schien, als kannten sie sich alle. Jetzt bereute ich es, dass ich nie im Kindergarten gewesen war. Frau Kommissarin, glauben Sie mir, ich kannte damals schon das Wort frei und hatte immer gesagt, dass ich die Freiheit vorziehe und dass der Kindergarten Gefängnis sei. Das waren meine Worte damals. Ich schwöre es Ihnen. Genauso sagte ich zu Mutter: Mutter ich möchte da vorne rechts in der zweiten Bank sitzen. Außerdem sagte ich: Lass uns die anderen Kinder fragen, wie viele rote und blaue Stäbe sie haben. Ich stolzierte durch den Saal. Mein Kopf reichte bis zur Decke. Ich hatte einen Schwanenkopf. Und ich hatte Schwanenflügel anstelle von Händen. Mit den Flügeln streifte ich die Kinder und die Kinder froren in ihren Positionen fest. Ich hatte die Zeit angehalten. Ich ging von Kind zu Kind und beugte meinen langen Schwanenhals zu dem Kind hinab und schaute dem Kind aus meinen Schwanenaugen heraus direkt in seine Kinderaugen. Das Kind erwachte aus der Starre und beantwortete meine Fragen. Danach erstarrte es wieder, da ich ihm mit meinem Flügel übers Gesicht strich. So ging ich von Kind zu Kind. Und ich schwöre, ich fragte die Kinder: hee du, wie viele Stäbe hast du? Und die Kinder antworteten: Wir haben hundert Stäbe. Jeder von uns hat hundert Stäbe. Und die Kinder behaupteten: Wir brauchen hundert Stäbe. Ohne hundert Stäbe kommst du nicht durch das erste Jahr, du Schwanenmissgeburt. Frau Kommissarin, Sie können sich sicherlich vorstellen, wie sehr ich erschrak. Ich verwandelte mich wieder in ein kleines Kind. Die Schwanenfederfarbe blieb nur in meinem Gesicht zurück. Ich war kreidebleich. Dann wurde ich knallrot, leofingerblutwurstrot und ging zu meiner Mutter und fing an zu weinen und greinte, Mutter ich kann nicht bleiben. Ihr habt mich nicht ausreichend ausgestattet. Mutter, ich habe zu wenige Stäbe. Mutter, ich will nach Hause. Mutter, ich werde mich bis aufs Mark blamieren. Frau Kommissarin, das waren meine Worte. Ganz genau meine Worte. Ich sagte: Blamieren. Ich sagte: Bis aufs Mark blamieren. Ich sagte: Sie werden mich auslachen. Ich sagte: Ihr habt mich nicht ausreichend ausgestattet. Mutter ging zum Lehrer und fragte ihn. Ich stellte mich neben den Lehrer. Und ich stand genauso ernst da, wie der Herr Lehrer. Und ich sagte zu Mutter: Was fragst du den Herr Lehrer, Mutter? Glaubst du mir nicht, Mutter? Ich habe es dir doch gesagt, Mutter. Und der Lehrer sagte: Heute ist der erste Tag, heute braucht er überhaupt keine Stäbe. Ich schrumpfte auf meine Größe zurück. Ich sagte kein Wort mehr. Ich ging zu meinem Tisch. Ich setzte mich auf meinen Platz. Es war mir egal, wer neben mir saß. Ich schaute das Kind nicht an. Ich schaute den Lehrer nicht an. Ich schaute Mutter nicht an, die aus dem Saal ging. Ich starrte nicht auf den Tisch, auch wenn es so aussah. Ich war reines Sitzen, wenn Sie das verstehen, Frau Kommissarin. Aus dem Sitzen schreckte ich erst wieder auf, als wir im zweiten Jahr eine Frau Lehrerin bekamen, die mir in die Augen schaute und mich fragte: Wer bist du denn? Diese Frage war wie ein Kuss. Der erste in meinem Leben. Abgesehen von denen von Astrid. Aber da war ich ja Übungsobjekt gewesen.


Die Kost der Nadelspitzen 24 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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