Dienstag, 16. Februar 2010

13

Einmal war Großmutter zu Besuch. Großmutter Maria. Großmutter war noch im 19. Jahrhundert geboren worden. Großmutter trug immer ein Kopftuch, um, wie Vater sagte, ihren Dickschädel warm zu halten. Großmutter was seine Schwiegermutter. Wenn sie zu Besuch war, schlief sie bei mir im Zimmer und Jan bei Astrid. Großmutter ließ sich nichts sagen. Ihr Mann war lange vor ihr gestorben. Weitere Großeltern hatte ich nicht kennen gelernt. Jan und Astrid auch nicht. Wenn Großmutter kam, half sie Mutter in der Küche. Wenn Großmutter kam, sagte sie, Johann, hol mir von deinem Obstler. Großmutter trank gerne Schnaps. Zwetschge oder Pflaume oder Birne. Astrid hatte mir später erzählt, Großmutter sei ihrem Mann oft ausgebüchst und habe sich in den Kneipen herum getrieben. Großmutter sah aus wie eine alte Hexe, vor der man sich aber nicht fürchten musste. Sie war eine Hexe, die das Böse abhielt. Aber die auch in allem das Böse sah. Sie wollte nicht, dass ich alleine in den Wald spielen ging. Sie wollte nicht, dass ich an meinen Lippen spielte oder an meinem Pimmel. Eins war ihr so schlimm wie das andere. Großmutter erzählte nicht vom bösen Wolf. Sie erzählte von Nachbars Hund und dass man sich vorsehen müsse, weil der schon so manchen gebissen habe, und dass die Bisse gefährlich seien. Mit Großmutter schlichen wir uns immer an Nachbars Haus vorbei. Wegen Großmutter hatte ich bei Nachbars Haus immer Herzklopfen. Astrid rannte stets so schnell sie konnte an Nachbars Haus vorbei. Der Hund, ein Schäferhund, wurde in einem Käfig gehalten. Eines Nachmittags wollte Großmutter mich zu einer Verwandten, die ich nicht kannte und an die ich mich auch nicht mehr erinnern kann u. von der ich nicht weiß, ob es sie je gegeben hat, mitnehmen. Wir sollten pünktlich sein. Wir standen vor unserer Haustür. Sie trug ihr Kopftuch und einen dicken Mantel. Raureif lag über allem. Ich steckte in einem dicken Parker und unter einer lästigen Mütze, unter der die Haare juckten. Wir sahen, dass der Käfig offen stand. Man sah in Nachbars Garten. Ich sah den Raureif auf den blätterlosen Sträuchern. Großmutter drückte meine Hand. Wir mussten gehen. Aber was, wenn der Hund käme. Großmutter sagte nichts. Sie schaute nur. Schaute und schaute. Und dann gingen wir. Rasch und bestimmt. Der Hund kam nicht. Aber er hätte kommen können. Großmutter sagte, dass er nicht weit habe sein können. Von diesem Tag an traute ich dem Käfig nicht mehr. Großmutter sagte, ihr Mann, würde er noch leben, hätte diesen Hund längst erschossen. Großmutter behauptete bei einem Glas Schnaps, den sie mit dem fernen Verwandten trank, der Hund habe Tollwut. Ich wusste nicht, was das ist. Sie sagte, dadurch habe er Lust, jeden zu beißen. Und dann bekomme derjenige auch Tollwut. Ich dachte, aha, dann werde ich also auch zu einem Hund. U. dann will ich auch Tollwut haben. Und dann habe ich auch Lust, jeden zu beißen. Und ich fletschte die Zähne unter dem Tisch, unter dem ich spielte, während oben meine Großmutter Schnaps trank. Unter dem Tisch fühlte ich mich sicher. Dass ich auf dem Rückweg vor Angst fast gestorben bin, ist eine andere Sache. Aber von da an hoffte ich fast, der Hund möge mich beißen. Dann wäre ich auch ein Hund und niemand könne mir mehr was und ich würde durch den Wald streifen und die Menschen, die sich darin verirrten, beißen. Vater und Mutter durften wir von der Geschichte nichts erzählen. Vater saß im Esszimmer. Mutter in der Küche. Jan und Astrid saßen auf der Fensterbank. Großmutter saß im Wohnzimmer und hatte sich ein Gläschen eingeschenkt. Gegen die Kälte wie sie sagte. Und für den Magen. Auch das sagte sie. Vater sagte nichts. Mutter auch nicht. Ich stand an der Spüle. Oder saß ich auch auf der Fensterbank. Neben Jan. Ich weiß es nicht mehr. In meinem Kopf bin ich Hund und bin dem Käfig entflohen und streife durch die Straßen und erschrecke die Kinder, die nicht mit mir spielen wollten. Entweder stand ich an der Spüle und spielte mit einem kleinen goldenen Kettchen, das ich sich immer wieder um meinen Finger auf- und abwickeln ließ. Auf und ab. Um den ausgestreckten Zeigefinger. Ich glaube, das tat ich. Ich war noch sehr jung. Vielleicht zweite Klasse Grundschule. Höchstens acht. Oder ich saß auf der Fensterbank und schaute hinaus. Mutter rauchte eine Zigarette. Ich atmete gegen die Scheibe, die im Rhythmus meines Atems beschlug. Ich bildete mir ein, es sei Zigarettenrauch. In das Weiße der beschlagenen Scheibe malte ich kleine Figuren. Tat ich das? Oder spielte ich mit dem Kettchen, ließ es sich auf- und abwickeln. Um den ausgestreckten Zeigefinger. An der Spüle stehend. Mutter sog den Rauch der Zigarette tief ein. Jan und Astrid starrten in eine Leere, die irgendwo in der Küchenmitte gewesen sein muss. Vater döste über seiner Zeitung. Großmutter schenkte sich noch einen Schnaps ein. Der Gesundheit wegen. Mutter drückte ihre Zigarette aus und sagte, ich solle damit aufhören. Jan und Astrids Augen fraßen sich in die Leere in der Mitte der Küche. Vaters Kopf sank auf seine Zeitung nieder. Großmutter stellte ihr Glas auf den Tisch. Es machte klack. Sie schenkte nach. Ich hauchte an die Scheibe und malte munter weiter. Oder ich ließ das Kettchen um meinen Finger kreisen, so dass es erst immer kleiner, dann, bei gewechselter Kreiselrichtung, immer größer wurde. Mutter sagte noch einmal: Hör auf damit. Ich verstand sie nicht. Ich tat doch nichts. Ich schlug nicht Jan. Ich zog Astrid nicht an den Haaren. Ich warf nichts auf den Boden. In meinem Kopf war ich der Hund, der unablässig wie das Sich-Wickeln des Kettchens oder das Hauchen des Atmens durch sie Straßen streifte, hungrig und gefährlich. Lachend, weil die Leute hinter den Fenstern standen und zitterten und nicht wagten zu atmen. Zornig, weil er Lust hatte, sie zu jagen und seine Zähne in ihre Beine zu schlagen. Ich hatte nicht gehört, wie Vater sich erhoben hatte. Ich hatte nicht gehört, dass Mutter noch ein weiteres Mal geschrieen hatte, hör auf. Vater kam aus dem Nichts des Esszimmers oder aus dieser Leere der Küche, in die Jan und Astrid gestarrt hatten, geschossen und schlug mich mit aller Kraft mitten ins Gesicht, dass mir das Kettchen aus der Hand fiel oder der Kopf an die Scheibe knallte. Er schrie, du hörst jetzt auf. Ich spürte nichts. Ich hatte den Schlag nicht gespürt. Aber ich hatte die Leere in der Küche gefunden. Ich war sozusagen zu ihrem Zentrum geworden. Zu ihrem Auge. Ich stand inmitten dieser Leere u. ich sah Jans und Astrids Blicke mich durchbohren. Ich hörte nichts. Ich konnte nichts fassen. Die Wände der Küche waren in unendliche Weite gerückt. Ich hörte Großmutter nicht mehr trinken. Ich roch den Rauch von Mutters Zigarette nicht mehr. Nur die Blicke von Jan und Astrid wollten nicht aufhören. Wie im Traum, wenn man kaum von der Stelle kommt, versuchte ich mich zu bewegen. Ganz langsam, wie ich meinte u. wie ich mich heute von außen sehe, ging ich ins Wohnzimmer. In meinem Kopf sah ich, wie Großvater, den ich nie gesehen hatte, den Hund auf der Straße abknallte. Er jaulte auf und schleppte einige Meter seine Hinterbeine hinter sich her. Dann schoss Großvater ein zweites Mal. Großvater hatte kein Gesicht. Ich setzte mich im Wohnzimmer an den Tisch. Ich hatte die Tür hinter mir abgesperrt. Bei uns steckte in jeder Tür der Schlüssel. Wir hatten die Gewohnheit, uns einzusperren. Vergaßen wir das, und Vater oder Mutter oder Jan oder Astrid oder Großmutter oder ich kamen unverhofft ins Zimmer, erschraken wir uns zu Tode. Ich sah nicht Großmutter. Sah nicht, wie sie sich ein weiteres Glas einschenkte. Ich hörte keinen Laut aus dem Esszimmer. Ich vergaß, dass wir eine Küche hatten. Ich setzte mich an den Tisch. Da lag eine Zeitung und da lag ein Kuli. Großmutter hatte Stift und Zeitung an die Tischkante geschoben, damit ihre Flasche und ihr Glas Platz hatten. Ich nahm den Kuli und schrieb Vaters Namen auf die Zeitung. In die Zeitung. Was in der Zeitung geschrieben steht, ist wahr. Und was wahr war, las unser Vater, der nichts Erfundenes mochte, geradezu verabscheute. In seiner Anwesenheit war es unmöglich, einen Spielfilm zu schauen. Er sagte, das ist doch Dreck, während Mutter mit James Dean oder Romy Schneider litt und Großmutter sich um ihre Gesundheit und ihren Magen kümmerte. Ich schrieb JOHANN. Dick und krakelig. Ich konnte noch nicht gut schreiben. Vater hatte mich meinen Namen schreiben gelehrt. Mit Mutter musste ich nachmittags verhasste Übungen machen. Wir saßen in der Küche und ich fühlte mich, als würde ich permanent bestraft. Um Vaters Namen zu schreiben, musste ich jeden Buchstaben extra zeichnen. Großbuchstaben. Ich schrieb IST. Und dahinter aller Schimpfwörter, die ich je gehört hatte. Nicht gehört hatte ich Großmutter. Sie war aufgestanden. Sie stand hinter mir. Ihr Atem roch nach Alkohol. Sie fuhr mir mit ihrer Hand durch meine Haare. Ich selbst hatte nicht bemerkt, sie hatte es aber wohl wahrgenommen, dass es aus meinen Augen auf die Zeitung tropfte. Ich konnte das nicht abstellen, obwohl es mir das Papier ruinierte, auf dem ich weitere Beschimpfungen hätte schreiben können. In Großbuchstaben. Die Lust des tollwütigen Hundes zu beißen. Nicht der Käfig der Küche mit Mutter. Ich mochte Großmutters Hand in meinem Haar nicht. Es war als ob ein Hunde fressendes Monster seinen Rachen aufgerissen hätte und seine Zähne um meinen Schädel gelegt hätte und es würde nun gleich zubeißen u. mein Schädel würde aufspringen wie die Samenkapseln am Waldrand, diese kleinen grünen Dinger, Rühr-mich-nicht-ans, die aufplatzten, drückte man sie leicht und es kitzelte an den Fingern. So würde mein tollwütiger Hundeschädel platzen und das Monster am Gaumen kitzeln, das so gar keine Angst mehr vor der Tollwut hatte, sie sich wahrscheinlich weggesoffen hatte, vielmehr würde das das Monster noch wütender machen, wie mich diese Samenkapseln wütender machen würden, weshalb ich alle Rühr-mich-nicht-ans mit einem Stock niedermachen würde, drauf und dreinschlagen und keine Pflanze verschonen würde. Vater hatte nie etwas zu dem Geschriebenen gesagt. Er hatte nie etwas zu dem Vorfall gesagt. Mutter auch nicht. Jan und Astrid ebenfalls nicht. Vater sprach die folgenden Jahre sehr wenig mit mir. Ich konnte die Strafe jeden Tag spüren. Er gab mir weniger Taschengeld. Mutter schaute mitleidig und gab mir ein bisschen mehr. Sie sagte, du Armer. Großmutter ist nicht lange darauf gestorben. Oder waren es Jahre darauf. Jedenfalls ist sie gestorben. Schläft nicht mehr, da sie nicht mehr kommt, mit mir in einem Bett. Zieht sich nicht mehr neben meinem Bett aus. Sie dachte dabei wohl, ich schlafe. Oder dachte sie es nicht. Schließlich sprach sie mit mir, bevor sie sich hinlegte. Dass sie sich im Schlaf nie drehen würde. Ich wusste es besser. Aber sie wollte mir nicht glauben. Ich sei nur ein kleiner Junge. Außerdem solle ich mir die Nase putzen, sonst würde sich der ganze Rotz im Kopf sammeln und irgendwann würde der Kopf dann platzen, weil er zu voll sei. Voller Angst zog ich noch mal schnell die Nase hoch und versuchte zu schlafen. Niemand erzählte mir ein Märchen, damit ich besser schlafen konnte. Märchen würden Kinder nur ängstigen. Hatte Mutter im Fernsehen gehört.


Die Kost der Nadelspitzen 13 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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