Dienstag, 16. Februar 2010

31

Frau Kommissarin, es gab Zeiten, da wollte ich alles kontrollieren, selbst das Flackern einer Kerze. Es schmerzte im Auge und die Kerze musste vom Tisch. Als Kind machte ich mir vor Angst in die Hose. Das durfte nicht passieren. Es musste kontrolliert werden. Ich musste mich kontrollieren. Es durfte nichts nach außen dringen. Frau Kommissarin, wissen Sie denn, was der Ausdruck „Scheiß drauf“ wirklich bedeutet? Solange man das nicht weiß, ist man nichts weiter als abhängig. Und umso mehr muss man in sich fressen, schütten oder saugen, um sich zu beweisen, wie sehr man es halten kann – und wie sehr man, wenn man nur wollte, drauf scheißen könnte. Aber verzeihen Sie mir meine Wortwahl. Es soll nicht wieder vorkommen. Ich will es einfach laufen lassen. Wieso lachen Sie nicht? Ja, ich will es laufen lassen, weil ich mich dafür nicht mehr schäme. Weil ich heute lieber echte Schamlosigkeiten verachte. Weil es exakt die waren, die mich ein halbes Leben lang nichts anderes tun ließen, als mich zu betäuben. Damit ich die Schamlosigkeiten nicht mehr mitkriegen musste. Und glauben Sie mir, irgendwann ist man soweit, dass man alles für Schamlosigkeit hält. Alles was einem von einem anderen zukommt. Und alles in einem selbst, was zu diesem anderen hindrängt. Die Liebe wird dann zu etwas, die einen solchen Austausch nicht mehr nötig macht, dachte ich. Die Liebe sei das Ende der Scham und der Schamlosigkeit. Also nichts mehr wahrnehmen und nichts mehr von sich absondern: der perfekte Rausch, also der ohne die ekelhafte Besoffenheit, in der man nur lallt und torkelt und sich in die Hose macht. In diesem Rausch täte man sich selbst auch nichts mehr an, da es ja einen selbst und den anderen gar nicht mehr gäbe. Nur den Rausch der Liebe. Frau Kommissarin, Sie saßen mir im Nacken, um mich dazu anzutreiben, Sie überflüssig zu machen. Denn dadurch habe ich Sie umso mehr gebraucht. Frau Kommissarin, Sie haben mich, mit Verlaub, angefixt. Und Jan ebenso. Sie haben uns beide in unser eigenes Delir getrieben. Ich werde darauf zurückkommen. Noch ist die letzte Zigarette nicht geraucht. Wieso lachen Sie jetzt?

Sie sind so glatt. Sie rutschen durch die Finger wie trockenes Wasser. Wie dunkles Licht. Wie substanzloses Metall. Ich hasse und fürchte sie wegen der Dinge, die sie nicht tun. Ich weiß nicht, was sie getan haben. Ein Leben lang versuche ich mich zu erinnern. Aber sie haben mir nichts getan. Nicht das Geringste angetan. Was habe ich also mit ihnen zu tun? Das macht mich stets wahnsinnig: Was habe ich denn mit ihnen zu tun? Die Abweisung gründet in etwas, das sie nicht mir antaten. Sie ignorieren mich noch nicht einmal meinetwegen. Bei der klitzekleinsten Gelegenheit werde ich sie packen, sie ins Licht, in die Substanz und ins Flüssige zerren. Und dann werden sie spüren, was es heißt, ignoriert zu werden.

Letztlich hatte ich nur Angst vor mir selbst. Ich wusste ja, was in mir ist und welche Freude es sein würde, alle darunter zu begraben. Ich hatte gelernt, in der Eiswüste zu überleben. Anderes kannte ich nicht. Jeder Großtuer ist im Vergleich dazu in meinen Augen sehr klein. Bei den meisten schien es mir so, als ob sie, je näher sie mir kamen, umso kleiner wurden. Nur sehr wenige behielten ihre Größe. Keiner der sich an die physikalisch-optischen Gesetze hielt. Ein Winken bedeutete eine Verausgabung bis nahe an den Tod heran. Und dann kamt ihr näher und wurdet kleiner statt größer. Wie hättet ihr mir aus der Wüste helfen können?


Die Kost der Nadelspitzen 31 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen