Dienstag, 16. Februar 2010

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Jan hatte etwas von Vater übernommen: Den Fehler, keine Fehler machen zu dürfen. Bei Jan wirkte es lächerlich. Bei Vater zynisch. Zwei und zwei mussten hier immer vier ergeben. Scheiß auf die Umstände. Scheiß darauf, ob dadurch jemand hopps ging. Vater durfte, wie ich erst viel später erfuhr, einfach keinen Fehler mehr machen. Alles musste zwanghaft in der richtigen Ordnung ablaufen. Da konntest du nicht einfach links neben dem Tisch stehen, wenn man verdammt noch mal rechts neben dem Tisch zu stehen hatte. Jede regelgerechte Handlung musste den einen großen Fehler seines Lebens kaschieren. Und jede Zwangshandlung Jans musste den einen großen Fehler Jans kaschieren: Vaters Sohn zu sein. Auch ich war Vaters Sohn. Ich wählte den anderen Weg. Ich wollte nichts richtig machen. Ich wollte nie in Ordnung sein. Ich sang mein Leben lang: Put the blame on me babe. Ich wollte der eine große Fehler sein, dass es keinen anderen daneben gäbe. So wäre zumindest die Welt in Ordnung. So wäre alles in Ordnung, wenn die Welt diesen Fehler, mich, annehmen würde. Ich buhlte um die Welt, während Jan mit ihr abrechnete. Er rechnete mit ihr ab, indem er die perfekte Rechnung war, die Ordnung selbst. Die Fehlerlosigkeit. Auf Teufel komm raus, musste hier alles richtig sein, damit die Welt ihre eigene Fehlerhaftigkeit erkenne und sich ändere, endlich ihm zu Willen. Vater war ihm nie zu Willen. Er hat ihm den eigenen Willen ausgeprügelt. Wie er mich totgeschwiegen hatte. Ich war sein Tabu, die Schuld schlechthin, die nicht erinnert werden durfte, die auf ewig kaschiert werden musste, weil alles in ihm danach schrie: die Gier des Lebens nach der Unschuld des Fleisches; während Jan sein Totem war, das er totschlug, um darin seine eigene Leblosigkeit als Sühne des Geistes zu verehren. Für Jan war ich die Übertreibung der schuldbeladenen Welt, er sah Vater in mir. Für mich war Jan das Understatement der Leblosigkeit, denn auch ich sah Vater in ihm. Mutter war ihm die zu rettende Unschuld, für die er sein Leben gegeben hätte, mir war sie die Sühne einer Existenz, bzw. die Existenz einer Sühne, die ich ihr abnehmen wollte, indem ich mich dem Leben als Opfer anbieten wollte. Hier waren wir also gleiche Brüder. Aber sie ließ sich weder von ihm retten, noch nahm sie mich als Opfer an. Sie konnte mit uns beiden nicht sonderlich viel anfangen. Sie wusste ja noch nicht einmal etwas mit sich selbst anzufangen. Sie hatte sich immer nur selbst töten wollen. Und einst sich mit mir. Was mir Astrid u. Jan nie verziehen hatten, nie verzeihen werden. Auch wenn sie sich nicht daran erinnern. Auch wenn ich doch immer nur ihr kleiner Bruder war, den sie retten wollten. Der aber gefälligst und als Strafe einer, der zu retten ist, resp. nicht mehr zu retten ist, sein sollte. Wehe, er mache sich unabhängig. Oder er wolle sich nicht mehr retten lassen. Oder er erkenne diese ihre Güte als das, was sie ist, als Gewalt, als Strafe dafür, dass an mir beinahe ihre Mutter gestorben wäre. Dass diese ihre Mutter anderes wollte, wird ihnen nie in den Sinn kommen. Sie werden, nicht wie ich, die ich ihr Tod war, diese Dimension nie verstehen, Frau Kommissarin. Diese Obsession des Todes des Anatomen, der in der Leiche nach der Ursache des Todes sucht und nach dem Grund, dem verdammten Grund. Aber ich errege mich, verzeihen Sie, Frau Kommissarin. Ich sollte mich nicht erregen. Ich sollte nicht reden wie eine Schallplatte, die hängen geblieben ist, falls sie noch wissen, was das ist.


Die Kost der Nadelspitzen 39 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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