Dienstag, 16. Februar 2010

55

Im Wohnzimmer stand ein großer Wandschrank. Braunes Holz mit poliertem Furnier. Die Türen hingen bereits ein wenig durch, wenn man sie öffnete und man musste sie anheben, wollte man den Schrank schließen. Im untersten und hintersten Fach hatte Vater seine Schokolade und Nüsse liegen. Dort stand auch sein Alkohol. Likör. Cognac. Schnaps. Meine Eltern waren weg gefahren. Einkaufen vermutlich. Jan wohl bei einem Freund und Astrid war auch nicht zu Hause. Niemand war da. Ich schlich durchs Haus. Zog Kleider von Astrid über oder alte von Mutter, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte. Ich tastete mit nackten Füßen den Boden des Balkons ab. Das Fach mit der Schokolade zog mich magisch an. Darin lagen eine angefangene Tafel und eine verschlossene. Mit schnellen Bewegungen, ganz wie nebenbei, öffnete ich den Schrank und stibitzte ein kleines Stück Schokolade. Ich fühlte mich beobachtet. Das Haus war voller Augen und Ohren. In den Ecken hingen unsichtbare Ohren, die dir, wenn sie dich atmen hörten, den Atem stahlen. Und in den Lampen blickten dir Augen nach, die dir, sahen sie dich, die Wärme aus dem Körper sogen. Du fühlst es als Kribbeln. Als ob dein Fuß oder deine Hand eingeschlafen ist. Manchmal erlaubten sie sich auch einen Scherz mit dir und hauchten dir einen Schluckauf ein. Du musst aufpassen. Verkleidet erkennen sie dich nicht. Ich verkleidete mich als Mädchen, dann erkannten sie mich noch weniger. Auch wenn ich barfuss auf den Balkon hinaustrat, erkannten sie mich nicht. Welcher vernünftige Junge würde das im Winter tun. Es war nicht ich, der durchs Haus schlich und immer wieder an Vater Fach halt machte und ein Stück Schokolade stahl. Vater hatte sein Ritual. Jeden Abend um halb acht ging er zu seinem Fach, aß Schokolade. Dann nahm er einige Nüsse in seine Hand und warf sie sich in den Mund. Dabei verschluckte er sich regelmäßig und bekam einen gewaltigen Hustenanfall, den man in der ganzen Straße hörte. Mutter schüttelte dann den Kopf und selbst Jan grinste. Ich sah die Augen in den Lampen sich verschließen und die Ohren drückten ihre Läppchen in ihre Muscheln, um nicht taub zu werden. Manchmal kroch ich auf allen Vieren auf dem Boden. An diesem Tag rollte ich mich sogar in den Teppich ein. Mir hatte geträumt, das ganze Klo sei mit Schokolade verschmiert und ich würde es mit einem Lappen wischen müssen, aber die Schokolade ging nicht ab. Es war gar keine Schokolade, sondern ein Aufkleber von dem vorigen Besitzer des Klos. Das Klo hatte gar nicht meinen Eltern gehört. Ein Mann zeigte mit dem Finger auf mich und ich erwachte. Am Ende des Nachmittags war keine Schokolade mehr in dem Schrankfach. Obwohl ich jedes Mal nur ein kleines Stück genommen hatte, hatte ich doch schließlich alles gegessen. Folglich ließ sich nichts vortäuschen, nichts vertuschen. Ich konnte nur so tun, als sei nichts geschehen. Auch meine Eltern taten so, als sei nichts geschehen. Abends ist Vater wie gewöhnlich zu seinem Fach gegangen. Er rührte sich nicht. Sagte nichts. Ich hörte ihn etwas zu Mutter sagen, verstand aber nicht was. Am nächsten Tag nahmen sie mich, setzten mich ins Auto und wir fuhren los. Ich wusste nicht wohin. Ich fragte. Sie antworteten nicht. Ich fragte noch einmal. Mutter sagte lakonisch: Ins Krankenhaus. Ich fragte warum. Keine Antwort. Ich fragte noch einmal: warum. Mutter: Du hast wahrscheinlich Zucker. Darunter konnte ich mir nichts vorstellen. Ich sah weißes Pulver in meinem Körper. Ich hatte kein Blut in den Adern. Im Krankenhaus nahmen sie mir Blut ab. Ich schrie. Ich wollte keine Nadel in mir stecken haben. Ich wollte nicht, dass man irgendwas in mich steckte. Meine Eltern sprachen nicht mit mir. Der Arzt sagte nichts. Er blickte nur gewichtig. Frau Kommissarin, heute würde ich ihm mit meinem Skalpell die Augen aus dem Kopf schneiden. Wir fuhren wieder zurück. Keine Erklärung von Mutter. Nur besorgte Gesichter. Vater sagte: Du machst Mutter krank. Am nächsten Tag ging ich wieder zu dem Fach und nahm die Flasche mit dem Likör. Es schmeckte süß. Ich trank vier große Schlucke, dass die Augen in den Lampen tränten und es in den Ohren in den Ecken rauschte. Dann legte ich mich aufs Sofa und schlief, wie ich noch nie geschlafen hatte. In diesem Schlaf gab es weder Vater noch Mutter, es gab nur die Tränen und das Rauschen. Die Tränen fielen heiß auf meinen Bauch und wärmten ihn und das Rauschen lullte mich ein wie Musik. Hier machte ich niemanden krank und hier konnte niemand irgendwelche Nadeln in mich stechen. Hier löste ich mich auf wie ein Eiswürfel im heißen Tee. Im Sommer nahm ich immer welche, damit der Tee schneller kühl wurde und ich beim Trinken nicht so schwitzen musste. Waren die Würfel aufgelöst, trank ich das Glas mit einem einzigen Schluck leer.


Die Kost der Nadelspitzen 55 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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