Dienstag, 16. Februar 2010

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Warum sollte ich Mutter lieben? Sie hat uns nicht gezeigt, was Liebe ist. Sie zeigte uns nur, wie man sich zurück nimmt. Sich in sich einsperrt und sich als armselig bedauert. Also verhalte ich mich ihr gegenüber armselig. Warum sollte ich Vater lieben. Auch er zeigte mir nicht, wie man liebt. Er zeigt mir nicht, wie man väterliche Stärke liebt, weil er diese Stärke nicht hatte. Er zeigte mir nicht, wie man Liebe stärkt, da er nur in seiner Lieb- und Leblosigkeit stark war. Warum sollte ich sie lieben, da sie diese Liebe nicht wollten, auch wenn sie sie einklagten. Durch diese Perfidie haben sie jede Zuneigung verwirkt. Schließlich hätten sie sie nur nehmen müssen. Sie war immer da. Wie meine Liebe. Die immer noch da ist. Unaufgebraucht. Abgestanden inzwischen. Aber mit gutem Bouquet. Wollen sie mal riechen, Frau Kommissarin? Dafür müssen sie aber schon ein Herz haben. Als ich sehr klein war, zwei oder drei Jahre alt, war eines Tages Vater verschwunden. Er kam nicht von der Arbeit. Mutter verlor über ihn keinerlei Worte, als hätte es ihn nie gegeben. Vater war für eine Woche verschwunden. Jan und Astrid sah ich in dieser Woche nicht. An dem Tag, an dem Vater nicht nach Hause kam, nahm mich Mutter mit in ihr Schlafzimmer. Auf Vaters Seite lagen die dicke weiße Decke und das dicke weiße Daunenkissen unberührt da. Die Decke war glatt wie eine Schneeschicht, das Kissen war akkurat in der Mitte gefaltet. Als hätte nie jemand auf dieser Seite des Bettes geschlafen. Vom Fußende des Bettes aus betrachtet schlief Mutter auf der rechten Seite. Vater auf der Fensterseite. Auf Mutters Seite hingen ein Bild von mir und ein Schwarzweißfoto ihres Vaters an der Wand. An Großvaters Seite stand eine junge Frau mit pechschwarzen langen Haaren und dunklen Augen. Sie trug ein weißes Kleid. Großmutter. Sie hatte das Gesicht und den Blick einer Jahrmarktszigeunerin. Großvater trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte und hatte schlohweiße, seitlich gescheitelte Haare. Er schaute sehr ernst, sehr streng. Sein Gesicht war blass, leichenblass, während auf dem von Großmutter ein Schatten lag. Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Kommissarin, aber aus Großmutters Gesicht strahlte die dunkle Schönheit des Lebens, das im Schatten des Offiziellen macht, was es will; das bei feierlichen Anlässen ins Nebenzimmer verschwindet, um sich dort gehörig zu amüsieren, und das am Ende der Feier mit zerzausten Haaren und derangierten Kleidern zurück kommt und ein nur schwer zu unterdrückendes Lachen auf den Lippen trägt, die Wangen ganz dunkel vom vielen Blut darunter. Auch wenn ich mir die Frau auf dem Bild mit Kopftuch vorstellte, sah ich darin nicht das Gesicht der Frau, die ich als Großmutter kennen gelernt habe. Nur dieser Schatten, den kannte ich, der lag noch immer auf ihrem Gesicht, wenn sie breitbeinig am Tisch saß und sich mit ihren schwieligen Händen Schnaps einschenkte, in das Glas schaute wie die Jahrmarkszigeunerin in ihre Glaskugel und ihre düsteren Geschichten erzählte. Mutter und ich lagen während der ganzen Woche aneinander geklammert auf ihrer Seite und verließen das Bett nur, wenn einer von uns auf die Toilette musste. Wir aßen nichts. Wenn sie im Bad war, saß ich auf der Bettkante und betrachtete mein Bild. Ich studierte mein Gesicht und versuchte, mir selbst in die Augen zu schauen. Ich trug auf dem Bild schulterlange, hellblonde Haare. Ich lächelte nicht. Ich hielt die Nase leicht arrogant in die Luft. Ich hatte nicht die Kraft, aus dem Bett aufzustehen und mein Abbild im Spiegel anzusehen, um es mit der Fotografie zu vergleichen. Mutter kam zurück. Sie nahm mich in ihre Arme und wir lagen wortlos im Bett. Manchmal weinte sie. Aber sie sagte nichts, sie drückte mich nur umso fester an ihren Bauch. Nachts schaltete sie das Licht nicht aus. Am Ende der Woche sagte sie: Geh. Geh in die Küche. Ich komme auch gleich. Ich ging in die Küche. Sie machte uns etwas zu essen. Pellkartoffeln. Rote Beete. Quark. Sie sagte. Du musst was essen. Sie sprach nicht von dem, was passiert war. Ich fragte nichts. Am Nachmittag sah ich zum ersten Mal Jan und Astrid wieder. Sie fragten: Na? Ich antwortete nichts. Sie sagten nicht, wo sie gewesen waren. Ein Tag später war auch Vater wieder da. Alles war wieder wie zuvor. Ich schlief wieder in meinem Bett. Über diese Woche wurde von niemandem je ein Wort verloren. Als hätte es sie nicht gegeben. Aber, Frau Kommissarin, ich weiß, dass es sie gegeben hat. Dass mich meine Mutter im Arm gehalten hat. Dass wir eine Woche lang nichts gegessen haben. Nichts miteinander gesprochen haben. Dass ich auf die Decke und das Kissen meines Vaters wie auf ein gigantisches Gebirge geschaut habe. Dass weder Mutter noch ich gewagt hatten, diese Decke und dieses Kissen zu berühren. Ich hatte dagelegen und ihren unruhigen Atmen und das regelmäßige Schlagen ihres Herzens gehört. Mein Atem wurde ebenfalls unruhig, aber dafür schlug auch mein Herz regelmäßig. Neben ihrem Bett stand ein leerer Glasflakon für Parfum mit einer Quaste dran, um das Parfum zu zerstäuben. Ich spielte mit dieser Quaste. Ich spielte die ganze Woche mit dieser Quaste. Es gab in dieser Woche weder Tag noch Nacht. Manchmal war mir, als sei ich derjenige auf der Fotografie und als schaute ich leicht hochnäsig auf diese Frau und dieses Kind in diesem Bett herunter. Ich rümpfte die Nase über die beiden, vor allem über das Kind, das da von Armen eingezwängt lag und offensichtlich keine Luft mehr bekam und das sich an der Quaste festhielt wie an einem Rettungsring. Ich schürzte die Lippen über diese weinende Frau, die das Kind an sich presste, als wäre das Kind ein verlorener Teil ihrer selbst. Ich hatte mit den beiden nicht das geringste zu tun.

Wie Hunde sich um Abfall streiten, sich einander in den Hals beißen oder die Ohren abreißen, so stritten wir um die Liebe von Vater und Mutter. Und wer einen Bissen erhaschte und sich mit ihm in sein Eck verzog, glaubte, er habe Erlesenes vor sich und Nahrhaftes, von dem er Ewig zehren könne. Es musste zumindest für Wochen genügen. Jedenfalls hielt es nie lange genug vor, dass die Wunden hätten vernarben können. Wir glaubten, wir lebten in einer behüteten, reichen und geordneten Welt. Wehe dem, der das Geheimnis dessen verraten hätte, weswegen wir uns gegenseitig das Leben stahlen.


Die Kost der Nadelspitzen 35 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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