Dienstag, 16. Februar 2010

36

Jan tat so, als glaubte er Großmutters Geschichten nicht. Die Dorfwiese war eine Dorfwiese für ihn. Er hasste es auch, an dem großen Sensen-Mähen teilzunehmen. Es gäbe doch moderne Rasenmäher. Er lachte mich aus, als ich ihm von den Wesen erzählte, die sich von den Nadelspitzen der Wiese ernähren würden. Außerdem stünden auf einer Wiese Grashalme und damit basta. Ich glaubte Jan nicht. Ich hatte ihn in der Nacht schreien hören. Ich wusste, dass die Wesen ihn quälten. Auch träumte mir einmal, Großmutter habe sich des Nachts auf ihn gelegt und mit ihm gerungen. Ich war lachend erwacht. Großmutter hatte mir erklärt, dass die Milch aus dem Supermarkt schlecht sei. Dass sie nicht lebe. Dass sie aus toten Würmern gemacht sei. Dass sie nicht von der Kuh stamme. Sie würde in Fabriken hergestellt, in denen keine Kuh überleben könne. Diese Milch sei künstlich. Ich habe es nie über mich gebracht, Großmutter zu sagen, dass mir die Tote-Würmer-Milch besser schmeckte als die vom Bauern. Jan und Astrid tranken keine Milch. Vater trank Milch literweise. Mutter trank ebenfalls keine Milch. Ich trank morgens ein großes Glas und am Abend ein großes Glas. Ich liebte Erdbeeren in Milch. Aber nicht die Milch von der Kuh. Die schmeckte nach Kuh. Ich wusste nicht, wie tote Würmer schmeckten. Aber ich wusste, wie eine Kuh stank. Ich holte einmal die Woche die Milch in einer silbernen Blechkanne vom Bauern. Der Bauer hatte keine Klingel. Neben dem Haus buckelte ein Misthaufen seinen Gestank in den Himmel, bekleidet vom Geschrei des Hahnes, der oben auf residierte. Um den Misthaufen herum stritten sich die Hühner miteinander. Sie flatterten und gackerten und waren doch zu blöd, davon zu fliegen. Nur ein winziges Drahtzäunchen gebot ihnen Einhalt. Und sie blieben diesseits, bis es in ihr spezielles Jenseits ging: des Bauern Backofen. Der Bauer war eine Bäuerin mit dunkelblauer Kittelschürze und Gummistiefeln. Wenn die Hühner schrieen, schaute sie aus dem Stall hervor. Was willst du, Bub? Ich bin der Bub von den Baumschlags und ich komme, wie jede Woche, die Milch holen. Dass sie sich das nicht merken konnte. Dass sie jedes Mal noch sprechen musste. Konnte sie nicht die Kanne nehmen, die Kuhmilch einfüllen, sie mir wieder geben und gut ist. Ich wollte so schnell wie möglich weg. Hier war nichts Geheimnisvolles wie in Ofenschmidts Wald. Großmutter sagte, um die Kühe herum spüre man eine andere Welt. Ich wollte keine andere Welt im Stall. Die Welt im Wald war anders. Das genügte mir. Die Kühe machten mir Angst. Ihre Euter machten mir Angst. Die Bäuerin fragte, willste mal schauen. Ich schüttelte den Kopf. Die Bäuerin lachte. Der Hahn schrie. Die Hühner stritten sich. Ich dachte, selbst kriechend käme ich über das Zäunchen. Die Kühe gaben Laute von sich, die mich an Fürze erinnerten. Manchmal sah ich die Schnauze einer Kuh aus dem Dunkel des Stalles hervorlugen. Um den Kopf schwirrten Fliegen. Sie lebten, wie ich dachte, im Kopf der Kuh. Sie flogen offensichtlich zu den Nasenlöchern hinein und heraus. Und die Kuh hatte nichts, um sie zu verscheuchen. Auf der Weide hatte ich Kühe die Fliegen von ihrem Hinterteil mit dem Schwanz vertreiben sehen. Aber selbst das Zwinkern der Augen und das Klappern mit den Augenlidern nützte nichts. Allein vom Ansehen bekam ich Beklemmungen. Es juckte mich im Gesicht. Wenn ich die Kanne trug, lief mir immer der Schweiß ins Gesicht und ich konnte ihn nicht wegwischen, da ich die Kanne mit beiden Händen tragen musste. Abstellen war gefährlich. Jedes mal schwappte dabei die Milch über. Auf der Milch schwammen Schlieren von Fett. Mein Schweiß tropfte in die Milchkanne hinein. Im Wald hatte ich ein Heft gefunden, mit Bildern von nackigen Menschen darin. In den Gesichtern der Frauen klebten die gleichen Schlieren. Jan musste nie die Milch holen. Er sei nicht kräftig genug. Außerdem müsse er lernen. Jan sah nicht, wie die Hühner nach Würmern pickten und sie herunterzuschlucken versuchten. Sehr schwer ohne Hände. Ich hatte auch schon probiert, ohne Hände zu essen. War ne riesige Sauerei. Geht wahrscheinlich nur auf einem Misthaufen. Zu Hause stellte ich die Milch in den Keller. Dort war es kühl. Vater arbeitete abends im Keller. Sortierte Zeitschriften und Hefte. Ich verdrückte mich gleich nach dem Milch holen. Seit Tagen hatte ich Jan damit genervt, dass wir endlich die kleine Höhle in Ofenschmidts Wald erkunden. Ein dunkles Erdloch in der linken Hälfte. Hinter Unterholz versteckt. Jan hatte neue Batterien für unsere Taschenlampen kaufen sollen. Nur mit Mühe war Jan dazu zu bewegen, endlich loszuziehen. Aber wir gingen. Mutter stand in der Küche und putzte die Schränke. Vater war im Keller. Astrid hatte sich im Bad eingeschlossen. Das konnte Stunden dauern. Ich wusste nicht, was sie so lange darin machte. So lange konnte man nicht auf dem Klo sitzen. Ich saß zwar auch lange auf dem Klo. Aber nicht so lange wie Astrid. Mutter rauchte auf dem Klo. Ich hatte Astrid auch schon rauchen sehen. Sie sagte, wenn du es Mutter petzt, schlag ich dich tot. Inzwischen waren Jan und ich an der Höhle angekommen. Eine grasüberwachsene Öffnung unterhalb einer Sandaufschüttung. Gerade groß genug, dass ein Kind sich hindurch zwängen konnte. Jan sagte, das ist sie. Ich sagte nichts. Jan sagte, gehst du zuerst hinein. Ich sagte nichts. Ich bewegte mich nicht. Ich wollte nicht als erster hinein. Darin lebten doch die Wesen. Oder Zigeunerkinder. Hatte Großmutter gesagt. Die würden sich nicht waschen. Die hätten den wilden Blick. Nachts im Bett stellte ich mir vor, ich sei auch so ein Kind. Hätte schwarze Haare, die mir in Zotteln in die Stirn fielen. Hätte ganz dunkle Augen und meine Zähne leuchteten hinter blutroten Lippen hervor. Meine Haut hätte die Farbe von in heißer Milch geschmolzener Schokolade. Und ich wäre beweglich und behände. Ich könnte durch alle Schlupflöcher und zwischen allen Zaunstäben und unter jeder Tür hindurch kriechen. Großmutter sagte, diese Bastarde hätten die Beweglichkeit von Teufeln. Nichts könne sie stoppen. Wie Insekten. Man wisse nie, ob nicht einer gerade den Keller leer stehle. Oder ob des Nachts einer neben dem Bett stehe und einen erstechen wolle. Wie Mäusekinder lebten sie in Höhlen und würden sich aneinander drücken, damit sie nicht erfrieren würden. Jan, Astrid und ich drückten uns nie aneinander. Wir hatten ja Decken. Und Vater heizte. Außerdem würden wir uns nur aneinander schmutzig machen, sagte Mutter zu mir, als ich mich auf dem Sofa an Astrid lehnte. Das Wort „kuscheln“ erlernte ich als erwachsener Mann. Selbst dass die Schlieren auf den Gesichtern in dem Heft keine Fettschlieren waren, erfuhr ich früher als dieses dunkle Wort, das mich auch heute noch eher an das Rauschen von dornigem Gestrüpp im Sturm erinnert. Jan schrie in die Höhle, ist da jemand. Keine Antwort. Wir leuchteten mit der Taschenlampe hinein, aber der Lichtkegel verlor sich in der Dunkelheit. Ich hatte keine Angst, sagte ich mir. Ich war eher erregt. Zittrig. Als hätte ich Hunger auf etwas. Aus dem Mundwinkel tropfte Speichel, den ich schnell wegwischte, damit Jan es nicht sah. Jan sagte, ich geh jetzt da hinein. Ich sagte nichts. Jan fragte nicht, kommst du mit. Hätte er gefragt, hätte ich ja gesagt. So sagte ich nichts. So bewegte ich mich nicht. Aber ich sah nackte Kinder sich wie Mäusekinder aneinanderdrücken. Großmutter hatte einmal gesagt, komm mal her und schau. Sie öffnete ein schmutziges Taschentuch und darin waren kleine rosa Mäusebabys, die leise fiepten. Wie abgeschnittene und gehäutete Zehen. Mäuse waren abgeschnittene Zehen, die nicht sterben wollten. Großmutter nahm die Babys und warf sie in einen Eimer mit Wasser. Sie fiepten nicht mehr als zu lange. Großmutter lachte, nahm die toten Mäusebabys mit der bloßen Hand aus dem Eimer und warf sie in den Garten hinter die Büsche. In der Nacht träumte mir, ich schnitte Vater mit meinem Kinderbeil die beiden großen Zehen ab, sie fiepten und wollten davon laufen. Aber ich fing sie ein und warf sie in den Eimer mit Wasser. Aber ich getraute mich nicht, sie mit den Händen heraus zu holen. Ich hatte Angst, meine Finger würden ihrerseits zu Mäusebabys werden, die sich dann in meinen Arm hinein fressen würden und aus den Nasenlöchern heraus springen würden, wie die Fliegen bei der Kuh aus dem Nasenloch heraus flogen. Jan kroch in die Höhle hinein. Ich musste dringend pinkeln. Ich kroch durch das Unterholz zurück und pinkelte an einen Baum. Dann ging ich wieder zur Höhle. Von Jan keine Spur. Ich hatte Jans Freunde reden hören, dass die Höhle bis ins Dorf hinunter gehe. Dass sie sich vielfältig verzweige und dass im Krieg die Soldaten die Höhle als Geheimgänge benützt hätten. Ich hatte Vater danach gefragt, aber der hatte gesagt, das sei dummes Zeug. Mehr hatte er dazu nicht gesagt. Mir taten die Beine vom Warten weh. Ich rief in die Höhle: Jan. Aber es kam keine Antwort. Ich stellte mir vor, wie die Zigeunerkinder aus der Höhle gestoben kämen wie die Mäusezehen oder Zehenmäuse in meinem Traum aus dem Nasenloch, was ich ja nicht gesehen hatte, weil ich bereits wach geworden war. Aber ich war sicher, dass sie es im Traum getan hatten. Ich hatte es nur verpasst, so wie ja auch im Fernsehen der Film weitergeht, auch wenn man das Gerät ausschaltet. Ich überlegte schon, ob ich einfach nach Hause gehen sollte. Wenn Mutter fragen würde, ob ich wüsste, wo Jan sei, würde ich einfach mit nein antworten. Ich hatte schon oft gelogen und ich konnte es inzwischen ganz gut. Mutter fragte eh nicht weiter nach. Sie machte sich um Jan keine Sorgen. Vater sagte ab und zu, er sei ein seltsamer Junge und für einen solchen viel zu zart. Vater sagte, Jan müsse unbedingt zum Militär, damit aus ihm ein Mann werde. Zu mir hatte er dann gesagt, auf mich müsse das Militär eher aufpassen, damit ich keinen Unfug anstelle. Sonst würde es noch schlimm mit mir enden. Endlich kam Jan aus der Höhle zurück. Ich fragte: Und? Er sagte: Nichts. Geh doch selbst hinein, wenn du dich traust. Ich fragte: Und was ist mit den Kindern? Und den Gängen? Und den toten Soldaten aus dem Krieg? Jan wieder: Geh selbst hinein und schau sie dir an. Also sind sie da. Du glaubst auch alles. Du glaubst Großmutters Märchen. Kindskopf. Baby. Jan lachte. Sein Gesicht war erdverschmiert. Seine Kleider sandig. Mutter würde schimpfen. Ich sagte: Mutter wird schimpfen. Jan sagte: Wird sie nicht. Und er ließ mich stehen. Ich war schon im Unterholz verschwunden. Sollte ich in die Höhle gehen. Ich rührte mich nicht. Ich folgte nicht Jan. Ich näherte mich der Höhle nicht an. Ich sah in meinem Kopf die Dunkelheit. Ich roch Erde. Ich schmeckte Sand auf meiner Zunge. Ich fühlte zwischen meinen Fingern Schlamm. Aber ich bewegte mich nicht. Ich sah die Mäusebabys tot auf der Milch schwimmen. Mäusebabyschlieren. Ich sah Mausebabyschlieren im Gesicht der Frauen im Heft. Ich sah das schwarze, feuchte Nasenloch der Kuh, und ich sah ölig schillernde Schmeißfliegen ein und aus fliegen. Ich merkte, dass ich schon wieder ganz dringend pinkeln musste. Ich öffnete die Hose und pinkelte in das Erdloch hinein. Und dann machte ich mich davon. Ich holte Jan nicht mehr ein. Als ich zu Hause ankam, saß er schon in frischen Kleidern auf dem Sofa und schaute fern. Er schaute mich nicht an. Er sagte kein Wort über unser Abenteuer. Er sagte nie wieder ein Wort über unser Abenteuer. Er verriet mir nie, was in der Höhle war. Später bin ich auch mal in die Höhle. Es war keine Höhle mehr. Nur eine Erdmulde. Nichts weiter. Wahrscheinlich waren die Gänge eingestürzt. Ich war zu spät dran. Damals hätte ich mehr sehen können. Es gab auch keine Zigeuner mehr bei uns im Dorf. Hatte es je welche gegeben. Außer dem Scherenschleiferjungen und der Jahrmarktszigeunerin auf der Kirmes hatte ich nie welche gesehen. Und das waren nur ein ungewaschenes Kind und eine billig verkleidete Frau gewesen. Auch musste ich schon bald nicht mehr die Milch bei der Bäuerin holen. Großmutter behauptete zwar immer noch, dass die Milch aus dem Supermarkt nach toten Würmern schmecke und aus Abfall gemacht werde, aber sie trank sie trotzdem. Sie nahm eh nur einige Tropfen für ihren Kaffee. Je älter sie wurde, desto öfter verwechselte sie die Milchpackung mit der Orangensaftpackung. Sie merkte den Unterschied nicht. Woher wollte sie also wissen, dass diese Milch, die ich bis heute bevorzuge, aus toten Würmern gemacht wird. Inzwischen ist Großmutter selbst bei den toten Würmern, die sich in die eingefallenen Gänge der Höhle verkrochen haben. Ich bin mir sicher, dass Großmutters Grab leer ist. Sie liegt in der Höhle. Inmitten lauter toter Zehenmäusebabys. Und die Wesen der Wiese, die von der Decke kopfunter hängen, fiepen vor Hunger, da das Gras inzwischen mit dem Rasenmäher gemäht wird. Alle drei Wochen.

Ich erinnere mich, Frau Kommissarin. Bei einem der ersten Male, als ich die Milch vom Bauern holen musste, stolperte ich und die Milch lief über mich. Sie war lauwarm und meine Kleider klebten lauwarm an mir. Ich hatte mich nach jemandem rumgedreht und bin rückwärts gelaufen, gestolpert und nach hinten gefallen. Die Milch ergoss sich auf meinen Bauch und in mein Gesicht. Ich hatte Schreien wollen, aber ein Schwall Milch spritzte in meinen Mund. Es schmeckte wunderbar. Ich hatte diese Milch mit ihren dicken Schlieren bisher geliebt, Frau Kommissarin. Bis mir bewusst wurde, was passiert war. Vater und Mutter werden entsetzlich schimpfen. Sie schimpften nicht. Sie ignorierten mich. Sie sagten kein Wort. Sie sprachen zwei Wochen nicht mehr mit mir, dem Tollpatsch, der das sauer vom Mund abgesparte Geld einfach wegschüttet. Ab da wurde mir allein von dem Geruch dieser Milch übel. Sie roch nach Stall. Nach Scheiße. Nach allem Verbotenen. Frau Kommissarin, die sie immer da waren, nicht weit von mir, Sie haben auf mich acht gegeben. Sie haben keinen Grund, Verdacht zu schöpfen. Grinsen Sie nicht. Weisen Sie mir doch meine Vergehen nach. Aber das können Sie nicht. Nein, das können Sie nicht.


Die Kost der Nadelspitzen 36 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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