Dienstag, 16. Februar 2010

34

Jan nahm mich mit in Ofenschmidts Wald. Ein vom Regenwasser ausgewaschener Graben, mannshoch und mannsbreit, teilte den Wald in zwei Hälften und diente als Weg. Rechts des Grabens standen ausschließlich Nadelbäume. Links hauptsächlich Laubbäume. Die rechte Hälfte war licht und um die Bäume wuchs intensivgrünes Gras. Links wucherten um die Bäume Büsche und Sträucher und man musste sich Wege bahnen. Oft klatschten mir die Äste ins Gesicht oder kratzten meine Arme blutig. Auf der rechten Seite lief ich gerne barfuss, hatte aber Angst, die Bäume zu berühren, da sie harzig waren. Und ich hasste das Harz an meinen Händen oder Armen. Die linke Seite eignete sich wunderbar zum Wüten. Ich schlug auf die Holunderbüsche ein, riss die Zweige aus dem Busch heraus, knickte die dickeren Äste oder hackte mit dem kleinen Beil, das mir Vater gegeben hatte, die Hauptstämme zu faserigem Holzmüll. Der Saft, der aus den Schnittwunden quoll, klebte nicht. Ich rieb mir damit die Waden ein. Am Ende der rechten Hälfte war ein kleiner Wasserfall, wie wir es nannten. Ein Rinnsaal tröpfelte ein paar Felsen herab. Vielleicht zwei Meter tief. Im Winter hingen hier immerhin anderthalb Meter lange Eiszapfen, an die ich solange trat, bis sie herunter krachten und zerbrachen. In diesem Wald ging ich gern verloren. Jan plante kleine Hütten, teilte die Hütte in imaginäre Räume ein. Eine Hütte, das waren ein paar Äste im Karree an Bäume gebunden. Vielleicht mit Laubzweigen abgedeckt, zumeist aber offen. Jan dachte sogar an die Toilette. Hinter einem Baum war die offizielle Toilette und zu diesem Zweck hatten wir extra Klopapier mitgebracht. Ich ging auch ohne Jan zu der Hütte. Mutter hatte mir freilich verboten, alleine in den Wald zu gehen, wie sie mir auch verboten hatte, im Winter alleine auf dem zugefrorenen See zu laufen. Aber ich liebte es, wenn das Eis unter mir seltsame Geräusche von sich gab. Ich bildete mir ein, ich würde einbrechen und würde erst in letzter Minute gerettet. Ich versuchte mir das kalte Wasser auf der Haut vorzustellen, oder die Schnittwunden, die mir die Eiskanten zufügen würden. Ich sah rote Schlieren unter dem Eis grazil wie Tänzerinnenschleier davon schweben. Zu der Zeit hatte ich Angst vor dem Keller u. Angst vor dem Zu-Hause-alleine-sein. Riesenangst. Damals hatte ich noch nicht die Angst vor dem Draußen oder vor den anderen Menschen. Ich glaubte noch, die Schuld liege bei mir, wenn man mich in den Keller sperrte oder wenn ich alleine zu Hause gelassen wurde. Und durch diese Umstände werde die Schuld markiert u. jeder könne sie sehen. Das machte mir Angst. Angst, man könne falsches über mich denken. Dabei wäre ich doch nichts lieber als ein Teil des Waldes geworden, in dem u. mit dem die anderen spielen; wäre ich nichts lieber gewesen als das Eis des Sees, auf dem die Mädchen Pirouetten fuhren und vor Freude lachten. Ich glaubte nur an meine eigene Gehässigkeit. Bei anderen konnte ich mir eine solche nicht vorstellen. Auch nicht, dass sie traurig sind. U. wenn sie es waren, musste ich wohl Schuld daran sein, musste ich einen Fehler begangen haben. Deshalb wurde ich lernsüchtig. Damit ich diese Fehler nicht begehe. Frau Kommissarin, ich erkannte damals darin noch nicht den dicksten Fehler meines Lebens. Ich wusste noch nicht, dass Sie auch ab u. zu in Ihr Kissen flennen und lauthals warum brüllen. Sie brauchen jetzt nicht den Kopf zu schütteln. Sie brauchen jetzt nicht auszuweichen u. zu sagen, dass Sie hier nicht zur Debatte stünden; dass ich hier verhandelt würde. Das weiß ich auch so. So war es schließlich immer. Natürlich ging ich alleine in den Wald. Ging alleine zu dem kleinen Wasserfall und zerdrückte den nassen Sand zwischen meinen Fingern in der Hoffnung, so möge das Harz endlich von ihnen abgehen. Oder ich leckte an den Eiszapfen. Oder ich pinkelte an den Toilettenbaum. Groß zu machen, wie ein Nachbarsjunge es einmal getan hatte, traute ich mich nicht. Meistens war ich allein oder mit Jan. Astrid kam nur selten mit in den Wald. Manchmal ging dieser Nachbarsjunge mit. Er war in Jans Alter. Er hänselte mich gern. Ich provozierte gern. Er nahm sein Fahrrad mit in den Wald und raste den Graben zwischen den beiden Hälften hinunter. Das traute ich mich noch nicht. Aber ich fand großen Spaß daran, von einer Seite in den Graben zu springen, auf der anderen Seite wieder hinaus zu klettern und mich über den Rand hinweg in Sicherheit zu bringen, wenn der Junge auf seinem Rad den Graben hinab sauste. Ein einziges, ein letztes Mal war ich zu langsam. Der Nachbarsjunge erwischte mich voll. Er flog Salto mortale über die Lenkstange, die sich mir in den Bauch bohrte. Der Reifen schlug mir eine Wunde in den Oberschenkel, direkt unterhalb des Pos. Hautfetzen hingen herunter. Das Blut lief das Bein hinab. Ich bekam kaum Luft. Ich sah nur, wie am Himmel ein Zeppelin in Zeitlupe vorbei flog. Der Nachbarsjunge schrie mich an, aber ich hörte ihn nicht. Der Salto mortale hatte ihm nicht viel getan. Er blutete nicht einmal. Die Memme. Von Jan war keine Spur. Der Nachbarsjunge rannte zu meinen Eltern. Meine Mutter kam mich holen. Sie sprach mit mir, aber ich hörte auch sie nicht. Sie wusch mir die Wunde mit Seifenlauge aus, was fürchterlich brannte. Ich schrie. Aber ich hörte mich nicht. Nachdem Vater von der Arbeit gekommen war, packte er mich in den Wagen und fuhr mich zum Arzt. Der pickte mit einer Pinzette kleine Steinchen aus der Wunde, kleine Pfefferkörner aus dem tomatensaucenverschmierten Käse einer Pizza. Dann klebte er mir ein riesiges Pflaster über die erwachsenenhandtellergroße rote Stelle, von der Pizza hatte man alles heruntergeklaubt, nur noch der saucenverklebte Teig war übrig. In mein Bein war eine Pizza eingewachsen, die niemand mehr essen wollte. Einige Tage später riss mir der Arzt mit einem einzigen Ruck den Verband ab. Die Pizza war schwarz geworden, als wären Oliven zu einer Schmiere, die sich verkrustete, zerschmolzen. Der Nachbarsjunge spielte von dem Tag an nicht mehr mit mir. Ich sah ihn gelegentlich im Dorf, aber er lud mich auch nicht mehr zu sich nach Hause ein. In den Wald ging ich trotzdem weiterhin. Jan kam kaum mehr mit. Unsere Hütte war als solche nicht mehr zu erkennen. Ich erkannte sie dennoch. Ich schlich mich nach dem Mittagessen aus dem Garten und lief direkt zu dem Wald, zog die Schuhe aus und ging tapfer in die linke Hälfte. Ich weigerte mich, mir einen Weg mit den Händen zu bahnen. Ich zwängte mich einfach so durchs Unterholz. Die Äste ritzten meine Haut. Es kitzelte zuerst, dann merkte ich nichts mehr. Ich lief, als ob ich nicht ganz wach wäre. Im Hals hatte ich ein Würgen. Ich übergab mich seitwärts. Ich blieb dabei nicht stehen. Das Erbrochene tropfte weißlich die Blätter hinab. Die Haut juckte ein bisschen von den Kratzern. Aber ich ignorierte es. Eine seltsame Stimmung war in mir. Ich fühlte mich nicht traurig. Ich weinte nicht. Ich spürte auch keine Müdigkeit. Und doch war es wie müde und traurig sein zusammen. Aber als gäbe es Gähnen und Heulen nicht. Als wären sie noch nicht erfunden und niemand hätte noch je von ihnen gehört. Ein bisschen Mut war auch dabei, allerdings ein Mut vor der Erfindung des Abenteuers. Ich war kein Abenteurer. Ich war auch kein Kind. Ich sah mich nicht als Erwachsener. Kinder und Erwachsene gab es noch nicht. Ich konnte das nicht denken, nicht träumen und mir nicht ausmalen. Ich weiß, dass ich zu der Hütte ging. Und ich weiß, dass da ein anderes Kind war. Ich weiß, dass ich es nicht hörte und dass ich es sah, wie wenn man verkehrt herum durch ein Fernglas schaut. Heute würde ich sagen, wie wenn man einen Trip genommen hat. Ich habe nie einen Trip genommen. Aber ich stelle mir vor, dass man so unter Trip sich benimmt. Ich weiß auch nicht, ob es diesen Tag je gab. Und doch ist es, als ob es der einzige wirkliche Tag in meinem Leben gewesen wäre. Es gab keine Geräusche in dem Wald. Keine Vögel sangen. Keine Bäume knarrten, keine Blätter rauschten, keine Zapfen fielen klackend durch die Äste zu Boden. Das Kind lag nackt im Eck der Hütte, es trug lediglich eine Windel. Waren es Äste oder war es das Beil, das ich in der Hand hielt? Ich weiß es nicht. Ich sah auch kein Blut. Nur etwas schraubte sich aus meinem Gesichtsfeld. In Zeichentrickfilmen dreht sich manchmal das Ende in die Ansage des nächsten Programms hinein. Es war so ähnlich. Aber der Fernseher stand im Regen und es war eiskalt und wir zitterten alle und konnten vor Kälte kaum die Augen offen halten. Aber wir wollten wissen, was als nächstes kommt. Hast du es mitbekommen, dachte ich in Richtung dessen, der neben mir stand. Er rührte sich nicht. So ungefähr sah ich das Kind und wusste nicht, was nun als nächstes kommen sollte. Der Ast oder das Beil fiel mir aus der Hand. Fiel mir auf den Fuß. Aber das machte nun wirklich nichts mehr. Ich drehte mich um und ging mit einer Geschwindigkeit, von der ich dachte, so geht ein normaler Junge, nach Hause. Ich wusch mir die Hände und nahm mir Wurst und Käse aus dem Kühlschrank und machte mir ein Brot, so wie ich mich erinnern konnte, dass ich mir gewöhnlich ein Brot gemacht hatte. Mutter kam über mich, wie eine Angst über einen kommt, und fragte mich, ob ich mich schon gewaschen hätte. Ich sagte ja, zog mich ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an. Ich schaute in Richtung des Bildschirmes und lachte manchmal, weil ich mich erinnern konnte, dass ich das bei dieser Sendung schon mehrmals getan hatte. Dann beschloss ich, dass das, was geschehen war, nicht wirklich passiert war. Ich hatte dieses ausländische Kind nicht erschlagen. Ich war den ganzen Nachmittag in meinem Zimmer geblieben. Ich hatte Hausaufgaben gemacht. In meinen Heften konnte man den Beweis sehen. Nie hat mich jemand nach dem Kind gefragt. Es wurde wohl nicht gefunden. Oder es war niemandes Kind gewesen. Oder es war nur eine Puppe und ich hatte mich getäuscht. Wahrscheinlich hatten größere Kinder mich herein gelegt, ein Spiel mit mir gespielt. Die lachten sich jetzt wahrscheinlich in ihren Zimmern kaputt. Die machten sich wahrscheinlich über meinen Ast oder das Kinderbeil lustig. Ich beschloss, dass ich mich rächen werde. Irgendwann. Irgendwann werde ich in der Lage sein, ihnen zu sagen, geht weg. Hier gehört ihr nicht dazu. In der Nacht träumte ich, ich habe einen Fluss überqueren wollen. Die Brücke hatte die Form einer sechseckigen Röhre aus goldglänzendem Metall und getönten Scheiben. Als ich in der Röhre war, fing sie an, sich zu drehen und füllte sich mit Milch. Ich sah immer wieder Fluss und Himmel. Ich hatte keine Angst. Die Milch war körperwarm. Die Kleider klebten warm auf der Haut. Ich drückte meine Wange an einer Scheibe platt, wie ich es so oft am Fenster meines Zimmers getan hatte. Ich löste mich in der Milch auf. Alles floss aus mir heraus und wurde milchig. Als nur noch das Gesicht und die am Glas klebende Backe übrig waren, erwachte ich. Mein Bett war komplett durchnässt. Großmutter, die zu Besuch war, brachte es in Ordnung, bevor Mutter aufstand. Da Mutter nie darüber ein Wort verlor, hatte Großmutter ihr also nie etwas verraten. Von da an zog Normalität in die Tage ein.


Die Kost der Nadelspitzen 34 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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