Dienstag, 16. Februar 2010

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Ein Vogel krallt sich an meinem Adamsapfel fest und flattert vor meinem Gesicht herum und schlägt mir seine Flügel ins Gesicht und pickt mit seinem Schnabel in mein Kinn. Wenn er könnte, ich weiß es, würde er mir die Augen ausstechen und wie einen in sich vekringelten Wurm herunterschlucken. Der Vogel beruhigt sich und kommt mit seinem hornigen Mund so nah als möglich an mein linkes Ohr heran, meine Kehle weiterhin fest mit seinen Krallen fassend. Er hat eine leise, piepsige Stimme, wie Vögel sie haben, doch spricht er mit klaren Worten. Ich verstehe ihn zuerst nicht gut, kann nur einzelne Wörter heraushören, Wörter wie krank und Krankenhaus und Glasscheibe und viele Monate. Weil ich ungläubig schaue, flattert der Vogel wieder und schlägt mir seine Flügel um die Ohren und schafft es, mir in die Lippen zu picken und Hautfetzen daraus heraus zu reißen. Blut läuft mir übers Kinn und der Vogel tränkt putzig sein Köpfchen darin. Dann erzählt er von neuem, dass ich als Baby im Krankenhaus gewesen sei und dass niemand gekommen sei. Meine Mutter, so der Vogel, habe zu Hause auf dem Sofa gesessen und habe geglaubt, dass dieses Thema somit endlich erledigt sei; dass dieses Thema, so zwitschert der Vogel lieblich, ich gewesen sei. Ich stelle mir Krankenschwestern vor, die mir zärtlich über den Kopf und über die Wangen streichen, doch der Vogel sagt, mein Kopf habe in einer Apparatur gesteckt und meine Lungen hätten gequietscht, als habe der Apparatur Öl gefehlt, und ich sei so, wie er und ich nun Tête-à-Tête seien, mit dem Tod Tête-à-Tête gewesen. Ich habe völlig still dagelegen und man habe nur das Rasseln meiner Lungen gehört und habe nur die metallenen Stangen des Apparates gesehen und Mutter habe zu Hause gesessen und habe geschwiegen und habe gehofft, dass damit endlich alles vorbei sei und wie nie gewesen. Ich glaubte dem Vogel nicht. Ich glaubte nicht einmal an den Vogel. Diese Erinnerung muss ein schlechter Traum gewesen sein. Vor Gericht nicht brauchbar, dachte ich. Einer Kommissarin gegenüber nur dummes Geschwätz.


Die Kost der Nadelspitzen 6 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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