Dienstag, 16. Februar 2010

23

Vater hatte geliebt. Ja, Frau Kommissarin. Es findet sich hier tatsächlich die Liebe. Sie ist in unseren Adern. Die vergebliche, die wirkliche Liebe. Die Liebe der Wahrheit, der Einsamkeit. Die Liebe dessen, was wir sind: Einsame Hunde. Ich hatte mir an einem Herbsttag, an dem ich alleine zu Hause war, die Schminke meiner Schwester ins Gesicht geschmiert: Die Lippen rot zur Fratze und die Backen purpurn wie Tulpenblüten so groß. Ich hatte Weißes über mein Gesicht verteilt und mit dem Kajal meine Fingerkuppen schwarz gefärbt und bin mit den Fingerkuppen um meine Augen herum gefahren. Tief aus einer Höhle sollten sie schauen, wie Monde in der Nacht, in der die Wölfe heulten. Seltsamer Chingachgook, durch dessen und Uncas Geschichte ich mich seit Monaten gequält hatte, auf dem Bett liegend, völlig verschnupft, Taschentuch um Taschentuch mit Grüngelblichem füllend, und draußen regnete es, u. das Buch roch nach altem Leder. Kein Witz, Frau Kommissarin, es roch nach altem Leder. Kein Wortspiel. Ich scherze nicht, Frau Kommissarin. Bin ich denn ein Witzbold. Ich erzähle Ihnen, erkläre Ihnen die Anfänge meiner Berufung. Mutter hatte in einer riesigen Vase Heublumen, die entfernt Federn glichen. Die steckte ich mir ins Haar. Ich zog mich bis auf die Unterhose aus. Brust u. Beine schmierte ich mir mit roter Schuhwichse ein. Um den Hals hängte ich mir eine billige Perlenkette aus Astrids Hippieschatzkästlein. Als letztes tauschte ich meine Unterhose gegen einen ihrer Slips aus. So durchschlich ich das Haus. Lag auf der Lauer. Horchte nach Feinden und hielt nach Freunden Ausschau. Jedes Knistern hörte ich. Das Rauschen des Vorhangs vor dem geöffneten Fenster kündigte feindliche Soldaten an, die nicht anderes im Sinn hatten, als Chingachgook zu töten, zu martern, in einen Käfig zu stecken, unter dem ein Feuer brannte. Ich robbte auf allen vieren durch das Wohnzimmer u. zwängte meinen Kopf unter das Sofa. Legte mich hinter das Sofa auf die Pirsch. Pisste leise in Mutters Vase. Stahl mir Wurst aus dem Kühlschrank, die ich mit beiden Händen, versteckt hinter dem dicken, grünen Vorhang des Esszimmers, in mich stopfte. Ich spuckte den leeren Josefbilderrahmen an, das Gefängnis einer Seele. Ich öffnete die Schranktüren mit den Zehen, rücklings auf dem Boden liegend. Ich krabbelte ins Schlafzimmer meiner Eltern und schnupperte an ihrer Bettwäsche. Sie roch nach Waschmittel. Alles roch in diesem Haus nach Waschmittel. Auf dem Boden lag kein Staub, ich musste mir ums Spurenverwischen keine Sorgen machen. Ich rieb mein Geschlecht an Mutters Kopfkissen. Ich stellte mich vor ihren Toilettenspiegel, so ein dreiteiliges Teil, dessen Flügel beweglich waren, so dass man sich von der Seite und, wenn man sich ein bisschen verrenkte, von hinten sehen konnte. Ich zog Astrids Slip herunter und schmierte mein Geschlecht ebenfalls mit der roten Schuhwichse ein, die allmählich schon anfing, von meinem Bauch abzublättern. Ich drückte meinen nackten Po gegen diesen Spiegel u. sah mich dabei von der Seite in den Flügeln. Der rote Bauch, die lediglich stellenweise verschmierte Flanke. Ich nahm das Weihwasserfass von der Wand und schüttete mir das Weihwasser in die Haare, die ich mit den Fingern nach hinten strich. Nass u. glänzend wie die Pomadenfrisuren im Film, die Mutter so mochte. Ich rannte in den Keller, den nackten Stein unter meinen Füßen zu spüren, wie ich ihn je gespürt hatte, als Vater mich in den Keller gesperrt hatte und ich aus Wut das Kellerfenster eingetreten hatte. Ich schlängelte über diesen nackten Bodenstein, fühlte die Furchen zwischen den Steinen in meinem Bauch. Ich leckte an den Steinen. Als ich Jahre später zum ersten Mal Oliven aß, dachte ich, die schmecken wie unsere Kellersteine. Ich roch am Moder hinter den Konserven. Als Chingachgook hatte ich keine Angst vor Insekten. Auch diesen Geruch sollte ich Jahre später wieder finden. Eine Frau, die mich mitgenommen hatte, ließ mich ihre Mumu beschnuppern, u. die roch ebenso. Nur bei dieser Frau. Bei keiner anderen fand ich diesen Geruch von Moder, Blechkonserven und Kellerasseln. Ich habe sie nie wieder gesehen. Sie hatte ein schwarzes Muttermal auf der Innenseite ihres rechten Oberschenkels. Ich habe später erfahren, dass sie bei einem Autounfall ums Leben kam. Der Kopf wurde ihr von einem von einem Laster herunterfallenden Baumstamm vom Rumpf getrennt. Ich schnüffelte an Vaters Kellerschrank. Hier standen Marmeladengläser, gefüllt mit rostigen Schrauben und Muttern, mit Unterlagsscheiben und Reiszwecken, zu denen Großmutter Wanzen sagte. Überall steckte ich meine Nase hinein. Spurensuche. An allem leckte ich. Ich schüttete den Inhalt eines Glases auf den Boden u. stellte mich mit meinen blanken Füßen darauf. Der Schmerz war angenehm. Ich schüttete auch die Reiszwecken auf den Boden u. stellte mich auch darauf. Auch dieser Schmerz war angenehm. Ich bekam eine Gänsehaut. Ich setzte mich hin und zog die Reiszwecken aus meinen Füßen. Klein Blutperlen bildeten sich auf der Haut. Ich betrachtete sie, sah sie wachsen. Sie waren schön. Ich rieb die Schönheit in das Braun der Natursteine des Bodens. Nun hatte ich eine rotbraune Schmiere auf den Fußsohlen, schöner als mein Bauch u. meine Brust. Ein bisschen Zufriedenheit stieg in mir auf. Ich sammelte die Schrauben und Muttern und Reiszwecken wieder auf, füllte sie wieder in die Gläser und stellte sie wieder in den Schrank. Da sah ich hinter den Gläsern einen Brief liegen. Dieser Brief war in einer seltsam eckigen, aber gut lesbaren Schrift geschrieben. Ich versuchte ihn zu lesen. Den Ortsnamen konnte ich nicht aussprechen. Was war denn das für ein Name. Unaussprechlich. In diesem Brief war von einer Liebe die Rede. Von einer nicht möglichen Liebe. Ich verstand, der Ort war in Frankreich. Der Brief war vom 15., wahrscheinlich Februar, da stand etwas anderes, ähnliches, 1947. Oben auf dem Brief las ich lieber Johann, den Namen meines Vaters. Meine Beine zitterten. Ich hatte noch nie etwas so Persönliches meines Vaters in Händen gehalten. Ich wusste nicht, dass er Briefe schrieb. Dass er welche bekommen hatte. Ansonsten kamen nur Rechnungen oder Werbung ins Haus. Chingachgook wollte wissen. Ich verstand nicht viel. Da stand: „Kurze Zeit vor meiner Abreise kam sie zu mir. Wir sprachen von Ihnen wie gewöhnlich, zum Schluss sagte sie: ist es unmöglich für mich mit Johann eine gute Ehe zu schließen, so gehe ich ins Kloster, sehr weit von hier zu den Missionsschwestern.“ Und da standen diese Worte, Frau Kommissarin, ich habe diesen Brief an diesem Chingachgook-Tag auswendig gelernt, u. nie wieder vergessen. Auch wenn ich so vieles vergessen habe, so habe ich doch die Worte dieses Briefes nie wieder vergessen. Die Worte von der Liebe meines Vaters. Von der unmöglichen Liebe. Von seiner Chingachgook-Liebe. Von der Liebe des Einsamen. Da stand also: „Nun, Johann, dieser unglückliche Krieg hat vieles verändert, meinem Sinne nach ist es unmöglich, dass ein französisches Mädchen nach Deutschland geht und die Deutschen dürfen nicht in Frankreich arbeiten, vermutlich für eine lange Zeit. So ist es klüger für Sie in Deutschland etwas zu suchen.“ Und er hat ja auch was in Deutschland gefunden. Uns. Mich. Chingachgook. Fast nackt auf dem Boden sitzend, Brust und Beine mit Schuhwichse eingeschmiert, die Fußsohlen mit Blut und Dreck. Ich nahm das Glas mit den Reiszwecken, schüttete den Inhalt auf den Boden, zog den Slip aus und setzte mich auf die Reiszwecken. Ich weinte. Ich weiß nicht mehr, ob vor Glück oder vor Schmerz. Waren die beiden getrennt, Frau Kommissarin? Aber ein Indianer kannte keinen Schmerz. Und ein Indianer kannte also auch kein Glück. Und ich war der letzte der Indianer. Chingachgook. Kein Uncas mehr, keine Munros und Cora mehr. Nur ich. Mir war was ins Auge gekommen. Mir war dieser Brief ins Auge gekommen. Das war alles. Ich stand auf. Ich räumte auf. Legte den Brief, der einen roten Fingerabdruck von mir fortan trug, als wäre er von einer blutverschmierten Hand eines Freundes meines Vaters aus dem Krieg gehalten worden, wieder hinter die Gläser. Ich ging ins Bad, wusch mich, zog mich an und setzte mich brav vor den Fernseher und sah eine langweilige Komödie mit Peter Alexander, die mich kein einziges Mal zum Lachen brachte. Aber ich weinte auch nicht mehr. Ich hatte mir das, was mir ins Auge gekommen war, wieder aus dem Auge gewischt. Irgendwann später, womöglich Jahre später, kamen meine Eltern und meine Geschwister zurück. Sie fragten, na Bub. Ich antwortete: Nichts. Sie fragten, alles in Ordnung. Ich sagte, klar, alles in Ordnung, und lachte so, wie ich es bei Peter Alexander gesehen hatte. Bei mir war immer alles in Ordnung. Niemand soll sagen, ich sei wehleidig. Chingachgook mag der letzte sein, aber er ist nicht wehleidig.


Die Kost der Nadelspitzen 23 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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