Dienstag, 16. Februar 2010

42

Die Kindheit ist ein Stachel, der das nicht zur Ruhe kommen lässt, was nicht mehr erinnert werden mag. Der regen Phantasie meiner Kindheit entspricht eine Tatenlosigkeit, derer ich mich tatsächlich schäme. Nie wieder soll so wenig passiert sein, wie in meiner Kindheit. Deshalb erhält jedes Ereignis eine ganz eigentümliche Bedeutung und ich will es immer und immer wieder erinnern, um eben zu vergessen, wie wenig in wirklich passierte. Deshalb habe ich mir späterhin die Fantasie verboten und alles musste passieren, musste passiert sein. Aber ohne Fantasie fehlte jedem Ereignis die ihm eigentümliche Bedeutung. So erscheint mir heute in meinem hohen Alter die ereignisreiche Zeit als eine einzige wüste Leere und leere Wüste, wohingegen die Kindheit eine Prallheit bekommt, die mich nicht von ihr loskommen lässt. Je mehr mein Leben in der Erinnerungslosigkeit verschwindet, bleibt die Kindheit als Fluchtpunkt, auf die hin ich mein Seziermesser ansetze. So gesehen ist meine Anatomie der Kindheit eine Anatomie eines Fluchtpunktes. Als würfe ich wie ein Schausteller meine Messer auf die an eine sich rasend schnell drehende Scheibe gebundene halbnackte Frau Kindheit.

Mein Leben wurde in der Kindheit auf tönerne Füße gestellt. Von diesem Moment an musste ich mich selbst verleugnen, sonst wäre ich auf diesen Füßen, auf denen ich wie auf eigenen stehen wollte und sollte, um eben dieser Kindheit und ihren tönernen Füßen zu entkommen, zusammengebrochen wie der Kaiser im Gewahrwerden der Wahrheit über seine neuen Kleider. Deshalb fantasierte ich jeden Abend im Bett liegend ein Traumland, in dem allen Menschen, die die Idylle gestört hätten, die Füße abgeschnitten worden waren. Diese Menschen lebten noch nicht mal in der Erinnerung, resp. in der Fantasie weiter. Nur ihre Füße waren als Gebrauchsgegenstände anwesend. Wie hätte ich wissen können, dass es sich um meine eigenen abgeschnittenen Füßen handelte, die ich als erotisierte Objekte glorifizierte. Eine erotisierte Wendung dessen, was meine Wahrheit war, ins Traumlandschaftliche, nämlich dass ich mir selbst nicht entkommen konnte, obwohl ich nichts anderes ersehnte: Ich wollte ein anderer sein. Einer dem all das wirklich passierte, was ich als möglich gehört und gesehen hatte. Mir schien das Leben eine Möglichkeit zu sein, die auch für mich galt. Ihm gegenüber verlor ich sozusagen den Boden unter den Füßen, indem ich die Füße gleich mit verlor. Zum Ausgleich bekam ich von denen, die mir den Boden plus Füße weggezogen hatte, die tönernen Füße. Das mussten dann wohl oder übel Vater und Mutter gewesen sein. Oder Jan und Astrid. Wer käme sonst in Frage? Ihnen hatte ich ja auch zuerst die Füße abgeschnitten, denn sie tauchten als Personen in meinem Traumland nicht auf. In ihm lebten nur fantastische Menschen. Entsprechend wurde mein Leben zur Suche nach fantastischen Menschen, denen ich auf meinen tönernen Füßen hinterher lief, das Messer schon in der Hand, falls es mit ihrem Phantastischen nicht so weit her sein sollte. Wir hatten alle eine Bringschuld und eine Beweislast, unter der wir schier zusammenbrachen. Dieses Einknicken hielt ich lange für das Fantastische in meinem Leben, für den Beweis einer sozusagen tieferen Existenz.

Echte Feigheit: die eigene Feigheit verleugnen. Echte Stärke: sich nicht trauen, seine Stärken zu zeigen.


Die Kost der Nadelspitzen 42 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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