Dienstag, 16. Februar 2010

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Einmal hatte ich einen Traum. Es schien die Sonne und alles war unglaublich schön. Und Schönheit ging durch mich hindurch und Schönheit strahlte ich aus und alle schauten mich verliebt an und lächelten mir zu. Dann erwachte ich. Der Wecker hatte geklingelt. Ich sollte zur Schule. Ich ging in die zweite Klasse. Ich hatte ins Bett geschissen. Meine Mutter sagte kein Wort. Mutter sagte nicht Johann zum Vater und Vater sagte nicht Thea zur Mutter und sie schüttelten nicht den Kopf. Sie wusch mich, den Kopf auf dem Dachboden und die Füße im Keller, und schickte mich zur Schule. Jan u. Astrid hatten schon früh am Morgen das Haus verlassen. Und abends legte Vater die Zeitung nicht aus der Hand. Mutter musste ihm das Abendbrot unter der Zeitung durchschieben. Alles blieb ruhig. Niemand sagte ein Wort, außer das ist meine Scheibe Wurst, gib sie her.

Wir hatten keinen Herrgottswinkel mehr, auch wenn in den Schlafzimmern der Eltern neben den Türen an der Wand kleine Holztafeln mit kleinen Wasserbecken in Muschelform oder in der Form zweier zu einer Schale geformten Händen hingen. Darin war Weihwasser. Und als Kinder mussten wir auf einen Stuhl steigen und die Finger damit benetzen und das Kreuz schlagen, wenn wir die Schlafzimmer betraten. Zu gern hätte ich Vater damit nass gespritzt. Aber owehoweh, das ging nicht. Einmal sah ich, wie Astrid in das Muschelbecken spuckte. Das war Vaters. Wir hatten also keinen Herrgottswinkel. Aber im Wohnzimmer im Eck stand ein Tischchen. Und auf dem Tischchen standen in einer weißen Vase frische Blumen. Und neben der Vase stand ein Bilderrahmen. Und der Bilderrahmen war leer. Es sollte an den Onkel erinnern, der im Krieg gefallen war. Der einzige Bruder meines Vaters. Die Legende ging, sie hätten sich vor dem Krieg wegen etwas gestritten. Wir erfuhren nie, worüber der Streit gegangen war. Mutter sagte nichts. Aber sie putzte den Bilderrahmen. Und stellte die frischen Blumen hin. Sie verriet uns zumindest, dass der Onkel „Der schöne Josef“ genannt wurde. Und dass er also sehr schön gewesen war. Als er noch gelebt hatte. Als niemand daran gedacht hatte, dass er bald fallen werde. U. dass deswegen niemand ein Bild von ihm gemacht habe. Die Kinderbilder, die wenigen, die es gab, seien im Krieg verloren gegangen. So stand in unserem Wohnzimmer ein Tischchen mit einem leeren Rahmen und mit frischen Blumen. Wir Kinder haben dieses Eck das „Der-schöne-Josef-Eck“ genannt. Einmal hatte ich den Bilderrahmen geöffnet, um nachzusehen, ob da wirklich kein Bild drin ist. Aber es war keins drin. Nur ein weißes Stück Passepartout, das einen Fleck von meinen schmutzigen Fingern bekam. Aber ich glaube, Mutter hat diesen Fleck nie bemerkt. Auch hat mich mein Vater aus Zorn nicht in einen verkrüppelten Baum verwandelt oder in den Felsen, auf dem die alten Weiber in den Filmen die nassen Kleider ausschlagen.


Die Kost der Nadelspitzen 4 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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