Dienstag, 16. Februar 2010

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Frau Kommissarin, Erinnerung ist so eine Sache. Ich kann mich erinnern und weiß genau, dass es so war, wie ich mich erinnere. Aber ich erinnere mich in verschiedenen Versionen. Und doch sind alle richtig. Es sind keine Alternativen. Es gibt nicht die eine wahre Erinnerung und die anderen falschen Lügen. Erinnerung lügt nie. Auch wenn es nie so war in den Augen der anderen. Das besagt gar nichts. Was in deinem Kopf ist, das ist so gewesen. Das war so. Punkt. Punktum. Jedes Disputieren darüber ist Haarspalterei. Spaltet die Haare der eigenen Lebensfigur. Du sitzt da und reißt dir diese Haare aus. Und als wäre damit nicht genug, müssen sie auch noch fein säuberlich gespalten werden. Man sitzt zittrig auf seinem Stuhl, eins dieser verdammten Haare in der Hand und das Kinderbeil in der anderen und ganz wie der Vater, wenn er die Bäume spaltete, versucht man das Haar zu entzweien. Herauszufinden, was wirklich war, was denn um Himmelswillen da geschehen sei. Aber ich sage Ihnen, Frau Kommissarin, jede Erinnerung hat ihre Berechtigung. Jede Erinnerung in Ihnen sind Sie. Ist Ihre Wahrheit. Ob erfunden, erstunken, erlogen, oder was auch immer. Es ist ihre erfundene, erstunkene, erlogene verdammte Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. So wahr ich Ihnen helfe, Frau Kommissarin. So wahr als Ihnen das Leben nie half. Das Leben ist etwas, das auf Ihre Hilfe wartet. Das auf meine Hilfe wartete. Das Leben ist ein vergessener Fetzen im Eck, der darauf wartet, dass man sich daraus einen geilen Fummel näht. Natürlich kann man ihn auch zum Ausputzen benutzen. Aber wozu, frage ich Sie? Was wollen Sie denn ausputzen. Die eigene Scheiße etwa, die Sie fabriziert haben? Aber die ist doch Vergangenheit. Wie wollen Sie denn die ausputzen? Frau Kommissarin? Was geschehen ist, ist geschehen. Auch wenn es ganz anders war. Natürlich, sie können dreinschlagen. Ich schlage ganz gerne drauf und drein. Wenn sich jemand rührt, juchhee, da ist noch jemand mit der gleichen Vergangenheit. Dem kann man die Gegenwart in seine Vergangenheit rammen, wenn er ein Arsch war. Oder meine Vergangenheit kann mit seiner Vergangenheit tanzen, während unserer beider Gegenwart Liebe mit sich selbst macht. Frau Kommissarin, ein Tänzchen gefällig? Oder wollen Sie mit mir nach Hause? Keine Sorge, mein Gedächtnis lässt nach und morgen ist’s wahrscheinlich wie nie passiert. Alles wird Morgen sein wie nie passiert. Das ist das schöne am Alter: Es hebt sich alles auf. Alles wiederholt sich in einem letzten Urknall des Vergessens. Alles ist in Mark und Bein, in Fleisch und Blut übergangen, Fresschen für Mother Earth, oder irgendwelche Erdgeister, die ihre Löcher im Wald nicht mehr gefunden haben. Frau Kommissarin, glauben Sie an Ihre Arbeit? Und die meine, die anatomische? Das Sezieren? Das Schneiden? Ich Menschennäher. Ich Menschenschneider. Das tapfere anatomische Schneiderlein. Frau Kommissarin halten Sie mich für tapfer? Oder glauben Sie, ich sei eine feige Sau? Entschuldigen Sie die Sprache, aber im Alter darf man, was man als Kind nur fantasierte. Im Alter fantasiert man, was man als Kind durfte. Frau Kommissarin, sind sie tapfer oder feige? Ist Ihr permanentes Schweigen Zeichen von Tapferkeit und Belastbarkeit oder von Feigheit und Dummheit? Sie schweigen weiterhin?

Hören Sie Frau Kommissarin, die Erinnerung hat das erfundene Äußere verschlungen, dass es einen würgt.

Fühlen Sie nie diesen Würgereiz in der Kehle, obwohl es Ihrem Magen gut geht. Er könnte sogar gerade jetzt ein gutes Essen vertragen, obwohl Sie es sich der Linie wegen versagen.

Zum ersten Mal fühlte ich diesen Würgereiz an einem Sommermorgen in den Ferien. In der Erinnerung macht die Erinnerung einen Schnitt und ich stehe auf der Straße. In drei Versionen. Einmal alleine. Einmal mit Jan. Einmal mit dem Nachbarsjungen Hajo. Die dritte Variante ist die unwahrscheinlichste. Da Hajo eigentlich erst viel später in mein Kinderleben treten sollte. Als Balgpartner. Als Pimmelanfasspartner. Aber ich kann mich da auch täuschen. Ich sehe ihn. Er steht neben mir auf der Straße. Genauso wie Jan dasteht und wie ich alleine dastehe. Unser Haus rückt in weite Ferne. Am Himmel fliegt wieder mal ein Zeppelin. Die Sirene auf dem Dach des Nachbarhauses schreit ihren Alarm in den Himmel. Wir halten uns die Ohren zu. Durch das Dorf huscht das Wort Übung, biegt um die Ecken und quillt über vorgehaltene Hände. Hajo weint. Oder weint Jan? Oder ich? Ich stehe in der Erinnerung mir selbst gegenüber und schaue in mein weinendes Gesicht und glaube dem Weinen nicht. Das ist nicht meins. Das gehört mir nicht. Das hat mir jemand angehängt. Übergestülpt. Das ist Jans Heulen oder Hajos Brüllen. Ich stehe ruhig da und schaue dem Zeppelin nach, wie er hinter dem Hügel verschwindet. Ich winke mir selbst lachend vom Zeppelin herunter zu. Jan und Hajo winken zurück. Wir wollen mal wieder in Ofenschmidts Wald. Hinter dem Wald ist eine Wiese und auf der Wiese steht eine Hütte und darin wollen wir Familie spielen. Ich und Hajo. Oder ich und Jan. Oder ich allein. Ich spielte oft allein. Dann sah ich mich selbst. Dann wünschte ich mir jemanden, der die gleichen Fantasien hätte, wie ich sie hatte. Jan hatte meiner Meinung nach keine Fantasien. Er hatte Pläne. Und Hajo war ein bisschen doof. Er war wie ein kleiner Hund. Gut, manchmal konnte er beißen. Aber nur wenn man die Spielchen mit ihm übertrieb. Wenn man ihn zu fest am Schwanz zog. Oder ihn zu oft auf den Rücken warf. Haben Sie nie einen Hund auf den Rücken geworfen, Frau Kommissarin und dann in seine Weichteile getreten, um zu sehen, wie er sich windet? Oder haben Sie nie versucht, eine Katze mit einer einfachen Schlinge zu fangen, um sie am nächsten Ast aufzuknüpfen, sich kringelnd wie ein Fisch an der Angel. Haben Sie dann nie versucht, ihr Fell mit einem Feuerzeug anzusengen? Ich hatte es nur versucht. Das Vieh ließ sich nicht einfangen. Jedes Mal entwischte die Katze. Nachbars hübsche schwarze Katze mit dem glänzenden Fell, die so gerne um meine Beine strich. Die ich wirklich gerne hatte. Mutter wollte mir keine Katze kaufen. Tiere gehörten ihrer Meinung nach nicht ins Haus. Aber sie wäre doch nicht im Haus gewesen. Sie wäre draußen rumgelaufen. Und ab und zu hätte ich sie an einen Ast gehängt. Oder ihr eine Spritze verpasst. Oder sie mit dem Gartenschlauch nass gespritzt. Oder ihr mit meinem Kinderbeil den Schwanz abgehackt, um zu sehen, ob er wieder nachwächst. Hajo sagte, der Alarm mache ihm Angst und er wolle nach Hause. Ich schimpfte ihn einen Feigling, da war er still. Oder war es Jan, der mich einen Feigling schalt, weil ich nach Hause wollte; weil ich Angst vor der Sirene hatte. Weil ich glaubte, es passiere jetzt etwas ganz Schreckliches. Die Welt kippte aus ihren Angeln und kein Tag würde mehr so sein wie die davor. Oder stand ich einfach da und wusste nicht, was das ganze soll, das Sirren der Sirene, das komische Ding im Himmel und die leere Straße. Die Welt drehte sich um mich, als wäre mir schwindelig. Als fiele ich gleich zu Boden. Oder als kippte die Erde in den Weltraum und ich bliebe zurück wie ein Mond, der keinen Planeten mehr zum Umkreisen hat. Hajo und ich gingen in den Wald. Ich und Jan. Wir hatten unsere Luftpistolen dabei. Hajo und ich trugen unsere Fieberglasflitzebögen geschultert und einen Satz Pfeile in einem Köcher auf dem Rücken. Ich hatte nur ein Feuerzeug, sonst nichts. Ich brauchte nichts, wenn ich alleine in den Wald ging. Ich konnte mich verstecken. Jan zielte auf einen Vogel. Er werde ja doch nicht treffen. Aber der Vogel fiel von dem Ast. Wir fanden ihn. Er piepte noch und lief mit schleppendem Flügel im Kreis. Mach ihn tot, schrie ich. Das könne er nicht. Hajo hatte mit dem Bogen nach einem Reh geschossen. Wir wussten nicht, ob er tatsächlich in die Flanke getroffen hatte. Das Reh war laut krachend davon geschossen. Wir hatten Angst. Den Pfeil fanden wir nie wieder. Aber auch kein Blut. Lange Zeit zuckte ich zusammen, wenn es an der Tür klingelte. Ich dachte, jetzt sind wir geliefert. Jetzt haben sie das Reh gefunden und wir kommen wegen Wilderei ins Gefängnis so wie im Fernsehen. Ich zündete mit dem Feuerzeug kleine Äste an. Wenn es rauchte, lief ich schnell weg. Großmutter hatte schrecklich Angst vor Feuer und das hatte sie auf mich übertragen. Mit dem Unterschied, dass ich mich stets von dieser Angst überzeugen musste und also stets zündelte und dann davon lief. Wenn ich zu Hause war, schaute ich ängstlich aus dem Fenster, ob der Wald nicht in Flammen stehe. Hajo sagte, ich solle auch schießen. Ich fragte, warum. Ich würde mich nicht trauen, hielt mir Hajo vor. Ich nahm einen Pfeil, legte ihn ein und zielte auf Hajo. Er lachte. Ich schoss. Aber die Sehne hatte nicht richtig in der Kerbe gelegen und der Pfeil fiel nur auf den Boden, wohingegen die Sehne mir den Arm blutig schlug. Es brannte wie Feuer. Hajo lachte mich aus. Obwohl in seinen Augen die Furcht noch zu sehen war. Und ein Hass. Ein Misstrauen. Das Misstrauen des geschlagenen Hundes, der sich wünscht, sein Herrchen tot zu beißen. Sich aber nicht traut. Den Schwanz einklemmt und an den nächsten Baum seine Markierung setzt, während sein Herrchen ihn weiter zerrt. Kleine Bluttröpfchen quollen aus meinem Arm. Die Sehne hatte die Haut weg geschlagen. Jan flüsterte, er habe etwas gehört. Da seien welche, fremde Leute oder ein großes Tier. Aus Angst schoss ich mir in den eigenen Fuß. Aber die Luftpistole war nicht stark. Die Kugel drang nicht durchs Leder des Schuhs. Ich hatte am nächsten Tag einen blauen Fleck, das war alles. Jan hänselte mich deswegen. Ich sei ja ein großer Soldat, eine wirkliche Hilfe. In dem Moment legten sich tatsächlich zwei Arme um meinen und Jans Hals. Größere Jungs mit Stöckchen im Mund, auf denen sie kauten, nahmen uns gefangen. Sie waren aus der gleichen Straße wie wir. Mutter hatte gesagt, dass das schlimme Jungs seien. Und Vater hatte gesagt, ihre Familien seien arm und verkommen. Aus denen würde nichts Gutes werden. Hajo fing augenblicklich an zu flennen. Oder flennte ich, und Hajo gehörte zu den Jungs. Schlugen sie nicht die Hände aneinander und klopften sich auf die Schultern? Der Große rief, gut gemacht kleiner. Sie fesselten mir die Hände. Jan war davon gelaufen. Er hatte sich befreit und war davon gelaufen. Er ließ mich zurück. Ich dachte, er hole Vater. Aber er holte Vater nicht. Als ich nach Hause kam, saß er vor der Glotze und tat so, als ob nichts passiert wäre. Er drohte, wenn du etwas sagst, kriegst du sowohl von Vater als auch von mir Prügel. Weiter sagte er nichts. Ich rief den Jungs zu, was wollt ihr? Hier, ich hab zwei Mark dabei, die geb ich euch, wenn ihr mich laufen lasst. Und mein Feuerzeug. Wir brauchen dein blödes Feuerzeug nicht. Wir werden dich ein bisschen kitzeln. Sie lachten. Sie zerrten mich in die Hütte auf der Wiese. Davor hatten sie ein Feuer gemacht. In der Hütte hingen noch zwei Jungs und ein Mädchen rum. Das Mädchen rauchte eine Zigarette. Der Große zischte, er wisse etwas Besseres. Er verschwand. Unterdessen banden die anderen mich auf einem Stuhl fest. Das Mädchen fuhr mir mit einer Hand durch mein Haar. Dann blies es mir Rauch in mein Gesicht. Ich mochte Rauch. Mutter rauchte. Und Astrid auch. Deshalb verzog ich mein Gesicht nicht, sondern lächelte. Das Mädchen war schön. Auch wenn ich Angst vor seinem Blick hatte. Ich schämte mich vor diesem Blick. Ich schämte mich, angefesselt wie ich da saß. Hajo hatten sie draußen an einen Baum gebunden. Jan hatten sie zu Boden geworfen. Er lag im Dreck der Hütte und rührte sich nicht. Warum wehrte er sich nicht? Warum befreite er uns nicht? Blöder großer Bruder. Oder hatte er es versucht. Hatte er nicht dem einen in den Magen geschlagen? Hatten sie ihn nicht erst danach zu Boden geworfen und ihn bespuckt? War ich nicht unterdessen davon gelaufen? Ich rannte wie von Sinnen durch den Wald. Als ich zu Hause ankam, war alles nicht passiert. Ich setzte mich vor die Glotze und sagte mir, das ist nicht passiert. Wir waren nicht im Wald. Ich war zu Hause. Ich hatte den ganzen Tag ferngesehen. Als Jan kam und mich anschrie, warum ich einfach abgehauen sei, schrie ich zurück, er solle seinen Mund halten, sonst würde ich es Vater sagen und dann bekäme er wieder Haue, so wie er immer Haue bekomme. Vater legte ihn übers Knie und schlug entweder mit der bloßen Hand oder mit dem Gürtel auf seinen blanken Hintern, bis er glänzte wie ein Affenarsch. Danach redete Jan sehr lange nichts mehr mit mir. Und ich spielte lieber mit Astrid. Oder kommandierte Hajo. Hieß ihn sich hinlegen und dass ich ihn anpinkeln würde. Dann lief er schreiend davon und ich lachte. Ich saß noch immer in der Hütte. Hajo hatte sich vom Baum losgemacht und war abgehauen. Der große Junge mit dem blonden Haar, das ihm in die Augen hing, kam zurück. Das Mädchen steckte ihm seine Zunge in den Mund. Das war eklig. Ich rief, igitt. Das Mädchen spuckte mir deswegen ins Gesicht. Da war ich still. Insgeheim wünschte ich, es möge das noch einmal tun. Der Junge rollte ein Blatt, es sah aus wie Gras, zu einer Zigarette und steckte sie sich an. Das Mädchen sagte, lass mich auch mal ziehen. Die anderen Jungs gingen aus der Hütte. Ich hörte, wie sie sagte, was machen wir mit dem Balg. Schneiden wir ihn auf. Stechen wir ihn ab. Zünden wir ihn an. Ich hatte Angst. Der Große kam und blies mir den Rauch seiner seltsamen Zigarette ins Gesicht. Es roch sehr seltsam. Das Mädchen spielte mit einer alten rostigen Schere. Komm, wir schneiden ihm sein Ding ab, sagte es. Der Junge grinste. Weißt du überhaupt, dass du ein Ding hast? Fragte er. Ich hörte Hajo kreischen. Los, pinkel weiter, hörte ich die draußen rufen. Sie pinkelten den an den Baum gebundenen Hajo von oben bis unten nass. Das blüht dir auch gleich, sagte das Mädchen. Sie war in Astrids Alter. Sie trug ein T-Shirt. Ihre Brustwarzen drückten sich deutlich ab. Ihre Finger waren schwarz. Der Große hatte ganz kurze, blutige Fingernägel. Piss ihn an, sagte das Mädchen. Piss ihn selber an, sagte der Junge. Kommt, lasst uns abhauen, riefen die von draußen. Der macht sich eh bald selbst in die Hosen, sagt der Junge. Du traust dich nicht, sagt das Mädchen. Es fährt noch einmal durch mein Haar und drückt dann meinen Kopf fest an seine Brust. Es steckt seine Zunge in mein Ohr. Ich habe Gänsehaut. Ich höre ihr Lachen und Johlen leiser werden. Sitze regungslos auf dem Stuhl. Ich werde niemandem davon erzählen. Ich war alleine gewesen. Die Schnüre, mit denen sie mich an den Stuhl gebunden hatten, waren nicht sonderlich schwierig zu öffnen. Nie habe ich jemandem davon erzählt. Ich kam heim und setzte mich vors Fernsehen. Mutter brachte mir ein Wurstbrot. Das Mädchen und den Jungen habe ich später ab und zu im Dorf gesehen. An der Imbissbude. Sie reagierten nicht auf mich. Ich war Luft für sie. Ich hätte sie gerne als Freunde gehabt. Ich gehörte durch das, was in der Hütte passiert war, zu ihnen. In meinen Fantasien zogen wir zusammen durch die Wälder. Das Mädchen steckte in meinen Fantasien seine Zunge in mein Ohr. Astrid hatte mal an meinem Hals geleckt. Hatte gesagt, das wolle ihr Freund, dass sie es mache und gelacht und gesagt, das sei doch eklig. Ich fand das nicht. Das Mädchen hatte sich auch nicht geekelt. Sie hatte sogar ins Ohr hinein geleckt. Astrid wollte auch nicht ihre Zunge in den Mund ihres Freundes stecken. Sie machte sich lustig darüber. Jan sprach über solche Dinge nicht. Im Bad schloss er sich ein. Der Junge starb später bei einem Autounfall. Das Mädchen wurde sehr dick und arbeitete später in der Metzgerei hinter der Theke. Auf meine komischen Blicke, wenn Mutter mich schickte, Fleisch oder Wurst zu kaufen, antwortete sie nicht. Vielleicht war sie’s auch gar nicht gewesen. Jan sprach nicht über den Vorfall. Falls er dabei war. Hajo auch nicht. Der wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich auch nichts mehr mit ihm. Wann ich ihn sah, hätte ich ihn am liebsten auch an einen Baum gebunden und angepinkelt. Ich sah es vor mir. Vielleicht habe ich mir das alles auch nur vorgestellt. Eingebildet. Ausgemalt. Frau Kommissarin. Ist es dadurch weniger wirklich, Frau Kommissarin? Ich spüre jedenfalls noch heute die Zunge des Mädchens in meinem Ohr. Sehe Jan auf dem Boden liegen. Schwach und jammernd. Oder sehe ihn vor dem Fernsehen sitzen und mich anherrschend, nie etwas zu verraten. Ebenso höre ich Hajo vor der Hütte schreien und die Jungs lachen. Ich rieche nahezu die sich durch das T-Shirt durchdrückende Brust des Mädchens. Und immer wenn ich abgekaute Fingernägel und blutige Nagelbette sehe, denke ich an den Jungen, der seltsame Blätter rauchte und den ich fast mit einer Glatze in Erinnerung habe, so schütter war sein blondes Haar.


Die Kost der Nadelspitzen 38 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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