Dienstag, 16. Februar 2010

11

Das Leben meiner Mutter war klar strukturiert. Und wir Kinder hatten sie tunlichst und bei bestem Gewissen nicht dabei zu stören. Sie übertrug uns keine Aufgaben. Die Aufgaben waren ihr Ressort. Worüber hätte sie sich sonst beklagen können. Was hätte sie ihrem Mann entgegen halten können. Wie hätte sie sich sonst als jemand fühlen können. Sie stand morgens um 6 Uhr auf. Machte Jan und Astrid Frühstück. Denn die mussten in die Schule. Ich war noch zu jung. Jan und ich schliefen in einem Zimmer. Astrid hatte eins für sich allein. Mutter kämmte Jan die Haare, schimpfte Astrid wegen zu liederlicher Kleidung und dann waren sie auch schon weg. Durchs Fenster drang allmählich die Sonne ein. Vater verließ das Haus und ging seiner Arbeit nach. Mutter machte keine Pause. Sie machte Gymnastik. Eine halbe Stunde. Dann wusch sie Wäsche. Sie lief treppauf und treppab und schaute, dass ich ihr dabei nicht im Weg lag. Ich baute mit Klötzchen Landschaften und Städte. Ich gab kleinen Autos Namen u. ließ sie miteinander konkurrieren oder romantische Freundschaften schließen. Zu gern wäre ich in eins dieser Autos eingestiegen u. in der von mir erbauten Landschaft verschwunden. Wäre zu gern durch die Wälder gefahren, vorne am Wagen Messer, die Breschen ins Gebüsch schlugen und Wege durch die Dunkelheit bahnten. Oder mit einem Bus mit imaginären Freunden. Wie in den Zeichentrickfilmen im Fernsehen würde sich hinter uns der Wald wieder schließen. In den Filmen gab es die Lokomotive, die ihre Geleise selbst verlegte. Zwischendrin setzte sich Mutter ans Fenster, sah den vorbeifahrenden Autos zu und rauchte eine Zigarette. Der Rauch roch gut und wenn es nach Rauch roch, konnte ich mich getrost meinen Träumen überlassen, Urwälder durchqueren, von denen ich die Namen nicht wusste. Ich kannte nichts von der Welt. Ich war froh, dass ich die einzelnen Zimmer im Haus benennen konnte und dass ich wusste, wo mein Platz war. Das war nicht immer sehr einfach, schließlich durfte ich nicht gänzlich verschwinden, aber auch nicht im Weg sein. Mutter trug Hauskleidung und hatte, wie ich meinte, kräftige Hände. Um 11 Uhr begannen die Vorbereitungen für das Mittagessen. Gegessen wurde, wenn Jan und Astrid aus der Schule zurückkamen. Samstag, Sonntag Punkt 13 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt und über Jahre hinaus. Kam einer zu spät, gab es einen Anschiss. Und wehe Mutter hatte nicht die rechte Menge Essen zubereitet. Dann hatten wir nämlich falsche Angaben über die Größe unseres Hungers gemacht. Es durfte nicht zu wenig sein und es durfte nichts übrig bleiben. War uns anzusehen, dass wir nicht satt waren, oder blieb etwas auf dem Tisch stehen, waren das Indizien – aufgepasst, Frau Kommissarin – dafür, dass wir gelogen hatten. Dass wir nicht die Wahrheit über uns gesagt hatten. Dass wir Geheimnisse vor unserer Mutter hatten, und das mochte unser Vater gar nicht gern. Waren wir nicht satt, zeigte das, dass wir untauglich fürs Leben waren. War etwas übrig geblieben, bewies das unsere Verschwendungssucht, unsere Ungehörigkeit und Verkommenheit. Frau Kommissarin, hier werden Sie noch genauere Fragen stellen müssen. Aber nicht jetzt. Weiter im Ablauf. Nachdem das Geschirr geputzt und verräumt worden war, natürlich alleinseligmachend von unserer Mutter, wurde die Küche gewischt, das Esszimmer gesaugt und, da man gerade dabei war, das ganze Haus. Wir standen an die Wände gedrückt oder in der Ecke oder flüchteten von Zimmer zu Zimmer, um dem Sauger nicht im Weg zu sein. Hätten wir ein Haus in Griechenland gehabt, so ein flaches, hätten wir uns aufs Dach geflüchtet. Aber ich bin mir ziemlich sicher, Mutter hätte auch noch dieses Dach gewischt u. dann wäre uns nichts anderes übrig geblieben, als vom Dach zu springen. Vater hätte dann wahrscheinlich den Kopf geschüttelt und gemurmelt, ich hab’s ja immer gesagt, zu dumm für dieses Leben. Danach schaltete Mutter das Bügeleisen an und schichtete im Esszimmer Wäscheberge auf: Hemden, Hosen, T-Shirts, Unterhemden, Unterhosen, Strümpfe, Handtücher, Sacktücher, Waschlappen und Putzlumpen. Die wurden alle gebügelt und fein säuberlich gefaltet. Das war genug Material, um über den Nachmittag zu kommen. Normalerweise war Mutter bei diesen Verrichtungen stumm. Ich erinnere mich an wenige Ausnahmen. Mag sein, dass ich die anderen vergessen habe, oder dass ich mir die Ausnahmen einbilde. So wie ich der felsenfesten Meinung bin, dass meine Mutter immer nur ein Alter gehabt habe. Egal ob mein sich auflösendes Gedächtnis 20 Jahre zurück oder 20 Jahre vor springt, sie sah immer gleich aus. Wobei ich ja nicht so sehr springen will, sonst schimpft die Frau Kommissarin, schilt mich, ich würde abschweifen und das sei den Ermittlungen nicht dienlich, ich solle meine Einschnitte akkurat begrenzen auf die Zeit, da ich ein kleines Kind gewesen sei. Zumindest für diese Ermittlungen hier. Ja, Frau Kommissarin, wenn Sie sich aber auch nur sporadisch blicken lassen, ihr altgedienter Anatom wird sich irgendwie daran halten, wie ich meiner Mutter auch immer irgendwie nicht zu sehr im Weg war. Also ich erinnere mich einer Ausnahme. Jan, oder war es Astrid, saßen am Esszimmertisch und Mutter bügelte den ersten Berg von drei Wäschebergen ab. Ich saß oder lag auf dem Boden, auf dem roten Teppich und spielte, falls meine Mutter mich nicht sehen konnte, mit meinem Zeh oder mit einem Spielzeug, falls sie mich sehen konnte. Mutter erzählte Astrid, oder war es Jan, vom Krieg. Seit ich denken kann, wurde in dem Haus vom Krieg erzählt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir ohne den Krieg nicht wären und dass der Krieg etwas war, wo die Menschen ihre Dummheit beweisen durften, so mein Vater, ihre Erbärmlichkeit offenbart hatten, so meine Mutter. Die genaueren Zusammenhänge verstand ich nicht. Aber das sonntägliche Essen und die Erzählungen vom Krieg gehörten jedenfalls für uns Kinder zusammen und Jan, Astrid und ich kannten die meisten Geschichten meines Vaters auswendig. Begann er einen Satz, beendeten wir ihn und lachten und er musste nicht mehr weiter erzählen. Über die Jahre blieben dann nur diese ersten Sätze und wir hatten tatsächlich vergessen, wie die Geschichte weiter gegangen war. Ich glaube, er hatte es auch vergessen. Mutter erzählte eher selten. Lieber von ihrem Vater, der stark und erbarmungslos gewesen sei. Gut. An diesem Nachmittag erzählte Mutter. Sie sei auf der anderen Seite des Dorfes im Wald gewesen. Ich sagte ja schon, dass wir auf dem Dorf lebten, oder? Mit einigen Freundinnen sei sie im Wald spazieren gegangen. In unserem Dorf gab es eine Bahnlinie. Und die sei vom Ami beschossen worden. Von Flugzeugen herunter. Später sei der Ami dann über den Berg gekommen. Aber an diesem Tag sei er eben aus den Wolken gefallen und er habe vom Himmel herab den Wald beschossen. Meine Mutter und ihre Freundinnen hätten Angst gehabt, sagte meine Mutter, ohne den Tonfall zu verändern und ging den zweiten Wäscheberg an. Astrid, oder war es Jan, schwieg. Ich blieb in Deckung hinter dem Tisch und steckte meine Finger zwischen meine Zehen, falls die anderen mich nicht sahen. Oder schob schauspielernd ein Auto um ein Stuhlbein herum und tat so, als würde ich spielen, falls sie mich sahen. Da seien sie aber um ihr Leben gerannt. Kreischte meine Mutter, Vaters lange Unterhosen bügelnd. Jan, oder war es Astrid, sagte nichts. Ich rammte das Auto gegen das Stuhlbein. Gerne hätte ich geschrieen, Krankenwagen bitte, aber ich blieb still, sonst wäre nicht der Krankenwagen gekommen, sondern etwas ganz anderes. Jan und Astrid, ich glaube nun doch, es waren beide, und ich glaube auch, Mutter war schon bei den Sacktüchern, die Vater so gerne mit vier Knoten auf dem Kopf trug oder in die er trompetete, als wolle er persönlich den Ami hinter den Berg zurück treiben; Jan und Astrid blieben fragend stumm, starrten aber Mutter an, die ihrerseits die Wäsche anstarrte, die noch in anderthalb Bergen gestapelt und ungebügelt dalag. Mutter erzählte nichts weiter. Gerannt seien sie eben. Was hätten sie sonst machen sollen. So wären die Zeiten eben gewesen. Gerannt um ihr Leben. Aber das sei vergangen und jetzt seien andere Zeiten. Jetzt würde einen ein solcher Unsinn nicht mehr vom Arbeiten abhalten. Ich lag vor meinem Tisch u. nuckelte an meinem Zeh und sah Spielzeugflugzeuge in Zeichentrick umher fliegen. So hatte ich es bei Tom und Jerry im Fernsehen gesehen oder bei Schweinchen dick. Ein kleiner schnurrbärtiger Typ schoss und meine Mutter, gezeichnet und mit Bügeleisen in der Hand, und ihre Freundinnen rannten aus einem einfach hingepinselten Wald hervor. Das Männchen im Flugzeug fluchte. Meine Mutter und die Freundinnen kreischten, wobei sie sich die Hände vor den Mund hielten. Dann kam ich mit meinem Spielzeugauto und der bärtige Ami flog mir hinterher. Was weiter geschehen sollte, dazu reichte meine Fantasie nicht. Astrid und Jan sagten nichts. Oder sie sagten, wie müssen jetzt Hausaufgaben machen. Und ich wusste, sie würden in ihrem Zimmer Musik hören. Ich wäre gerne mit ihnen gegangen. Aber ich blieb auf dem Teppich, nahm die Zehe aus dem Mund und ließ Spielzeugautos gegen die Stuhlbeine knallen. Vater war ja nicht da. Er sah das nicht gerne. Und dann sah ich zu, wie niemand kam, kein Krankenwagen, keine Polizei, keine Feuerwehr, nichts. Sie mussten verbluten, falls ich schon wusste, was das war. Oder zumindest allein bleiben. Das kannte ich schon. Und wenn meine Mutter fertig mit Bügeln war, rauchte sie eine Zigarette, sah den vorbei fahrenden Autos zu. Der Rauch roch gut. Sie machte sich dann ein Brot u. schälte mir einen Apfel, den ich damals ungern aß, u. wir setzten uns vors Fernsehen. Die Vorabendserie begann. Um 8 Uhr übernahm Vater den Fernseher und Mutter ging ins Bett. Jetzt hätte ich mich am liebsten in ein anderes Haus verzogen. Aber es half nichts, ich musste auch ins Bett. Ich drückte meinen geschorenen Teddy an mich, aber er tat gerade so, als könne er nicht sprechen. Oder hatten Sie ihm das, Frau Kommissarin, verboten. Später schwärmte Mutter von amerikanischen Schauspielern, wenn sie Fernsehen schaute. Was sie so schwärmen hieß. Was sie so Schauspieler hieß. Was sie so amerikanisch hieß. Also sie schwärmte von James Dean. Vater sagte, James bedeute Jakob auf Englisch. Der habe es so schwer gehabt, murmelte Mutter, nicht auf Vater achtend. Der Ami, der über den Berg gekommen war, habe sie gefragt, so sagte Jan später, ob sie nicht mitkommen wollte. Sie habe nein geantwortet. Deshalb gab sie sich wohl die Schuld, dass es James Dean in „Jenseits von Eden“ so schlecht gegangen ist. Dass er keinen Trost gefunden habe und doch wahnsinnig geworden sei. Dass er selbst, der Schauspieler, wahnsinnig gewesen sei. Dass er deshalb so jung gestorben sei. Dass ihn deshalb alle liebten. Heute glaube ich, Mutter hat ihn, James Dean, darum beneidet. Bei ihr hatte es nur zu Gallensteinen gelangt. Aber das wusste ich damals noch nicht. Zwar schon Anatom, man erinnere sich des Spiels mit den Zehen, war ich doch noch nicht auf allen Gebieten bewandert. Was glauben Sie, warum ich nicht wollte, dass man mich hinter dem Tisch erspähte. Wenn ich einst gänzlich bewandert sein werde, komme ich hinter meinem Tisch hervor. Ich war so lebensfern, als wäre ich nur eine Zeichentrickfigur gewesen, die erst nach einigen Sekunden merkt, dass sie in der Luft hängt, und dann erst merkt, dass sie träumt, und dann erst merkt, dass sie im falschen Film ist.


Die Kost der Nadelspitzen 11 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen