Dienstag, 16. Februar 2010

51

Vater war nicht stolz. Er war schweigsam. Wenn er nicht schrie. Sein Vater zog diesseits und jenseits der Grenze von Dorf zu Dorf und predigte den Sozialismus. Seinem Vater sagt man Stolz nach. Er habe aufrecht seine Meinung verbreitet und der Kirche nicht nachgegeben. Bei seinem Sohn fielen die Reden meines Großvaters von der Gleichheit und Irdischkeit des Menschen nicht auf fruchtbaren Boden. Er betete lieber. Und flüchtete vor seinem irdenen Begehren. Sünde und der Ort ihrer angeblichen Vergebung sind oft ein unzertrennliches Bruderpaar. Wen er, mein Vater, begehrte, verdammte er. Und wen er lobte, den begehrte er nicht, sondern der war ihm gleichgültig. Deshalb konnte er ihn unbedenklich preisen. Vater pries auch Gott.

Mutter war ebenfalls nicht stolz. Sie beklagte sich, dass das Leben nicht für sie sei. Ihr Vater war der Stolz in Person. Er duldete keinen Widerspruch. Deshalb schlich sich seine Frau, meine Großmutter, abends heimlich aus dem Haus und besuchte die Schenken des Dorfes. Mutters Vater hatte sie, seine Tochter, am Ende des Krieges beinahe in den Tod geschickt. Sie sollte ihre Schwester aus Norddeutschland holen. Sie allein. Während des Bombardements der Alliierten. Sie weigerte sich. Er schlug sie, wie man einen Hund schlägt. Später wollte sie sich selbst den Tod geben. Vielleicht dachte sie, dass sie so einem Stück des väterlichen Stolzes teilhaftig würde. Ich denke, dass Vater, mein Vater, als er sie, meine Mutter, sah, begehrte. Denn sie war eine schöne Frau gewesen. Und ich denke, dass sie, meine Mutter, als sie ihm, meinem Vater, begegnete, die Kraft seines verdammten Begehrens spürte und ihn für fähig hielt, sie zu retten, auch vor sich selbst. Aber daran dachte mein Vater nicht. Denn durch sie besiegelte er endgültig seine begehrte Verdammnis als Gegenbeweis zu den utopistischen Reden seines Vaters. Derweilen büchste meine Großmutter aus und trieb sich durch die Schenken des Dorfes.


Die Kost der Nadelspitzen 51 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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