Dienstag, 16. Februar 2010

56

In der Nacht, während sich am Fenster vor dem Vollmond Eisblumen bildeten, rund, gebogen, ineinander übergehend, in Nasses abdriftend, lag ich auf meinem Bett. Die Bilder an der Wand verschwanden, Großmutter war nicht da, Jan übernachtete bei einem Freund. Ich lag auf dem Rücken und starrte auf das Fenster, beobachtete den Vollmond und versuchte nichts zu denken. Nur diese zwei Augen zu sein, die an den Eisblumen und an dem Mond festklebten. Die die Geräusche ignorierten und nicht nach links schauten und nicht nach rechts. Ich spürte in meinem Ohrläppchen mein Herz schlagen. Aber das wollte und sollte ich vergessen. Es gab die Eisblumen, den Mond und mein Schauen. Oder nur Schauen. Ein „mein“ gab es nicht mehr. Es gab weder Vater noch Mutter noch Bruder noch Schwester. Es gab das Zimmer nicht mehr, das Bett und die Decke nicht mehr. Es gab meine Beine, meinen Bauch, meine Arme und meinen Kopf nicht mehr. Schauen. Mond. Eisblumen. Die Zeit hielt inne. Die Uhren hatten sich in nichts aufgelöst. Auch das Fenster war nicht mehr da, nur die Eisblumen, beleuchtet vom Mond. Gebogen wie Kirchenfenster. Aneinanderheftend wie Lemuren. Der Mond eine Leuchtkugel mit Flecken. Er hörte auf, hinter den Eisblumen zu sein. Er wurde zu einem Teil der Eisblumen, wie das Schauen zu einem Teil der Eisblumen wurde. Es war eins. Es verband sich. Die Welt endete dort, wo die Eisblumen in Wasser und Hauch übergingen. Die Tröpfchen gehörten nicht mehr dazu und verschwanden. Der Hauch verschwand. Der Mond verschwand. Es blieb sein Leuchten, es blieben die Strukturen und Linien der Eisblumen. Die feinen Linien strahlten wie Glühdrähte. Das Dazwischen, diese kleinen Eiswülste, verschwanden. Das Glühen, das Licht, das Schauen. Glühen, Licht, Schauen. Glühen. Licht. Schauen. Glühen und Licht hörten auf, sich zu unterscheiden. Das Schauen begann zu glühen und wurde Licht. Es blieb die Struktur des Lichtes. Gebogen, gerundet, auf und ab. Die Linien verkürzten sich zu einer kurzen Strecke, die Strecke schrumpfte zu einem kleinen Fleck. Das Licht bündelte sich im i. Der Fleck verdichtete sich zum I-Punkt. Das i wurde zum Punkt. Ein glühender, eiskalter Punkt. Punkt. Das Glühen ließ nach und der Punkt wurde dunkel, zu dem Dunkel seines u. Und das u. schmolz zusammen und verschwand. Nichts blieb.

Als ich am Morgen aufwachte, klebten meine Augenlieder. Es roch süßlich. Unangenehm. Ich wischte mir die Augen aus und öffnete sie. Neben meinem Bett lagen zwei Pfützen Kotze. Ich konnte mich nicht erinnern, gekotzt zu haben. Ich wollte, dass sie nicht da sind. Aber es war kein Traum. Sie waren da. Ich stand auf, ging ins Bad, kam mit einer Rolle Klopapier zurück, wischte die Kotze auf, warf den Berg Klopapier ins Klo, nahm einen Schwamm und schrubbte damit den Teppich, bis nur noch zwei nasse Flecken übrig blieben, die im Laufe des Vormittags trockneten. Der süßliche Geruch blieb noch mehrere Tag im Zimmer. Nachdem ich den Schwamm wieder ins Bad zurück gebracht und ausgespült hatte, ging ich in die Küche. Dort saß Mutter. Zu ihr sagte ich, Mutter ich habe heute Nacht gekotzt, aber ich habe alles schon wieder sauber gemacht. Mutter wusste nicht, was sie antworten sollte. Also antwortete sie nicht.

Frau Kommissarin, es gab definitiv keinen Grund für dieses Kotzen. Ich hatte nichts gemacht. Mir war nicht übel gewesen. Ich hatte nichts Falsches gegessen. Ich hatte mich gefühlt wie immer. Frau Kommissarin, es gab hier keine Schuld. Oder wie sehen Sie die Sache? Aber Sie schweigen wie immer und machen nur Ihren üblichen Wink mit dem kleinen Finger, um anzudeuten, dass ich fortfahren soll. Die Beweisaufnahme ist also noch nicht abgeschlossen. Die Lampe, die Sie nicht auf mich gerichtet haben, spüre ich dennoch im Gesicht als Hitze unter der Wangenhaut.

Mutter legte sich wieder in ihr Bett. Vater war irgendwo hingefahren. An diesem eiskalten Wintertag, an dem es nicht hell werden wollte, ging ich alleine zu Ofenschmidts Haus. Mutter lag in ihrem Bett. Vater war nicht da, ebenso Astrid und Jan. Ich sagte niemandem Bescheid, da niemand fragte; da niemand es mir verbot. Selbst ich machte mir darüber keine Gedanken. Ich lief einfach los, so wie man manchmal im Haus Dinge automatisch erledigt und hinterher nicht mehr weiß, ob man sie tatsächlich getan hat. Sie kennen das, Frau Kommissarin, man geht aus dem Haus und weiß nicht, ob man den Herd ausgeschaltet hat. Als Erwachsene gerät man in Panik. Als Kind ist man dann schlichtweg frei. Wer die kindliche Freiheit als Erwachsener sucht, Frau Kommissarin, findet nur die Panik. Vielleicht ist das ja ein Gesetz, Frau Kommissarin. Sollte man dann als Erwachsene nicht die kindliche Panik suchen, weil man folglich, nach dem Gesetz der Umkehrung, damit die Freiheit fände? Sind Sie deshalb Kommissarin geworden, Frau Kommissarin? Um in der Panik die Freiheit zu finden, und um der Freiheit zu entkommen, die die Panik erzeugt? Bin ich deshalb Anatom geworden? Haben wir da nicht etwas sehr Gemeinsames, Frau Kommissarin? Sind wir deshalb so ein gutes Team und Sie hören mir daher so gut zu und gehen nicht einfach in Ihr Leben davon, wie alle in ihr Leben davon gegangen sind? Wie Vater an dem Tag in ein Leben davon gegangen ist, und wie sich Mutter an diesem Tag in ein Leben hinein gelegt hat, um davon zu gehen? Frau Kommissarin, mir will es nicht gelingen zu fühlen, was ich damals fühlte, als ich mich auf den Weg zu Ofenschmidts Haus machte; als ich einfach ging. Nicht in ein anderes Leben. Ich war kein Erwachsener. Nicht in ein anderes Halbleben wie Astrid, die Halberwachsene. Nicht in ein anderes Irgendetwas wie Jan, dieser Irgendetwas nur kein Kind mehr. Jan ging sicherlich in Hemdsärmeln in die Kälte, denn ist Kälte, Frau Kommissarin, nicht etwas Irrationales? Und Irrationales erachtete er für nicht mehr wichtig. Denn Irrationales konnte man nicht denken. Aber Freiheit war das nicht, denn im Ignorieren orientierte er sich am Wetter. Das war nicht die Freiheit des Gefühls ohne Denken, des puren Organismus, des vegetativ Tierischen, des Tieres, das einfach läuft, gewahr jedes Geräusches und jedes Geruches, ohne dass es aber wüsste, wohin es geht, woher es kommt. War Astrid, halb gezogen halb gedrückt, gegangen? Halb angezogen, halb nackt? Lachen Sie nicht, Frau Kommissarin? Das ist kein Witz, keine Obszönität. Das ist eine Unfertigkeit, in jedem Sinne des Wortes. Es ist eine Verhaltenheit, die nicht weiß, wie sie sich verhalten soll. Frau Kommissarin, wir kennen das, sie kommt in den Tagen, in denen nichts passiert ist und uns die kindliche Freiheit beschleicht und wir die Panik in uns wachsen spüren und eine Stimme hören, die uns verdammt und die auf unsere erworbene Autorität scheißt. Wir haben nicht mehr die Autorität des Kindes, das einfach geht, so wie ich damals an diesem Wintertag einfach gegangen bin. Aber umso besser, Frau Kommissarin, funktioniert an den Tagen, an denen was passiert, an denen die anderen sich in die Hosen scheißen; an denen Sie eine Leiche finden und ich sie seziere. Und Leichen gibt es viele, auch wenn wir angeblich in einer Zeit leben, in der augenblicklich mehr Menschen leben sollen als je gestorben sind. Ich ging die wenigen hunderte Meter zu diesem Haus, in dem ich auf Jan geschossen hatte. Von dem Großmutter seltsame Dinge erzählt hatte, Mutter und Vater schwiegen oder kurze, patzige Antworten gaben, die Sie sich, Frau Kommissarin, nicht als Antworten gefallen lassen würden. Ich ging in diesem Dämmerlicht der Wintertage, an denen die Luft wie verschmutzter Schnee aussieht, wie der Matsch auf der Straße, der einem entgegenspritzt, wenn ein Auto vorbei rast, und man hat keinen Schnee auf der Hose, sondern nur nasse Flecken und schwarze Steinchen und ein Gefühl von Kälte, die so anders ist wie die meiner Leichen. Ich habe gehört, dass Sterbende eine solche Kälte spüren sollen. Diese schneegraue Luft ist die Kälte der Sterbenden. An diesen Tagen sollte man im Arm gehalten werden. Ich glaube, nur wegen dieser Tage wurde die Liebe erfunden. Was denken Sie, Frau Kommissarin? Sie denken nichts. Auch gut. Sie schauen müde. Sie haben den Schlafzimmerblick. Oder ist das so ein Kommissarinnentrick? Ich jedenfalls empfand diese Tage immer als Tage des Wartens, seit ich nicht mehr die Freiheit des Kindes habe. Frau Kommissarin, ich stand plötzlich vor der Haustür des Hauses der Ofenschmidts, ohne dass ich heute sagen könnte, wie ich dahin gelaufen bin. Sie erinnern sich, es ist wie mit dem Herd, von dem man nicht mehr weiß, ob er vielleicht das Haus niederbrennen wird. Es gab das Losgehen und das Ankommen. Dazwischen hing ein Seil. Wie ein Seil über einem Abgrund. Es hängt sehr lose. Man sieht, dass es auf der einen Seite des Abgrunds befestigt ist und dass da ein Seil aus der Dunkelheit des Abgrundes auf der anderen Seite empor kommt und dort drüben befestigt ist. Was dazwischen ist, kann man nicht erkennen. Man weiß nicht einmal, ob es sich tatsächlich nur um ein Seil handelt, oder ob es nicht zwei verschiedene sind. Eins, das hinab in den Schlund läuft, und eins, das aus ihm heraus führt. Aber alle Vermutungen und jeder Verstand sprechen dafür, dass es sich nur um ein einziges Seil handelt, an dem wir uns über den Abgrund hinweg hangeln können. Hatten hangeln können, denn irgendwie sind wir doch bereits auf der anderen Seite. Nicht wahr, Frau Kommissarin? Wir sind bereits auf der anderen Seite? Ich jedenfalls glaube, auf der anderen Seite zu sein. Es kann nicht anders sein. Es kann nicht sein, dass ich ein Leben lang auf der einen Seite geblieben bin. Ich habe mich hinüber gehangelt. Und Sie auch. Sonst wären Sie nicht hier. Aber lassen wir das, das ist ein Thema, über das man Stunden lang diskutieren kann, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Man wiederholt nur in zunehmender Rage die gleichen Sätze, um so wütender, je mehr einem bewusst wird, dass man keinerlei Beweis für diese Sätze hat, für diese inzwischen hingeschrieenen Aussagen, vor den Latz geknallten Wörter, von denen man immer mehr glaubt, dass sie, wenn sie nicht akzeptiert werden, das eigene Leben negieren würden. Man schreit um seine eigene Existenz, von der immer deutlicher wird, dass es für sie keinerlei Beweis gibt, Frau Kommissarin. Sie müssten den anderen schon als Leiche sicherstellen und ich müsste ihn als solche sezieren und dann fände man vielleicht bei günstiger Beurteilung eines fähigen Richters den Beweis für die Existenz des Mörders, der dann in diesem Fall wir gewesen wären. Man hätte also den Beweis für unsere Existenz gefunden, Frau Kommissarin. Aber wie sie wissen, kommt man in diesen Diskussionen irgendwann doch zur Raison und geht nach Hause und unterhält sich beim nächsten Mal wieder über das Wetter oder Kücheneinrichtungen oder die Kriege in der Welt.

Ich drücke, ich weiß nicht warum, die Klingel der Ofenschmidts, die Klingel an einem Haus, das seit Jahren leer steht. Die Einstellung wechselt von Schwarzweiß auf Farbe. Die Akustik verstärkt die Tiefendynamik. Die Kontraste werden verschärft. Das permanente Brummen verlischt. Eine der Töchter der Ofenschmidts öffnet mir die Tür. Sie trägt ein Satinkleid im Stil der zwanziger Jahre. Mit einer weißen Feder an der linken Brust. Ihr Haar ist unter einer schwarzen Samtkappe versteckt. Ihre Augen werden von einer venezianischen Maske mit spitzer Nase umrahmt. Schwer zu sagen, ob das Kleid und die Maskierung edel sind oder einem billigen Kaufhaus entstammen u. im Ensemble gekauft wurden. Mit einer, wie mir scheint, recht gekünstelten Geste gibt mir die Frau Zeichen einzutreten. Ich zögere. Doch trete ich, automatisch die gekünstelte Bewegung imitierend, ein. Ich stehe in einem Flur, an dessen Wänden verschiedene Kostüme und Masken hängen. Auf der linken Seite für Erwachsene, auf der rechten Seite für Kinder. Die Haken sind an der Wand befestigte Schaufensterpuppenarme. Mir ist, als hätte ich das alles irgendwo schon einmal gesehen. Aber die Intensität der Farbe, des Kontrastes und der Geräusche, die jede Bewegung verursacht, wischt wie mit einem Schnipsen jedes Bedenken hinweg. Die Frau lacht. Wähle. Sagt sie kurz und bündig, aber sanft und melodisch. Ich stelle keine Fragen. Jedes Fragen wird in mir getilgt. Das Innere meines Kopfes wurde mit der Umstellung auf Farbe gewaschen. Keine Hirnwäsche wie in den Thrillern. Eher dem Herrichten einer Banketttafel vergleichbar. Jedoch ist mir die übliche Scheu vor solchen Veranstaltungen genommen. Es fehlt das Zwanghafte, das Hingesetzte und Stilllebenhafte solcher Festivitäten. Ebenso das Ordinäre und Verlogene. Das Sterbenslangweilige. Je mehr ich mich im Größenunterschied zu der Frau, der beträchtlich ist, als Kind wahrnehme, umso abgeklärte wird das Innere meines Kopfes. Die Unterschiede zwischen Erwachsen und Kindlich sind ebenso nicht vorhanden wie irgendwelche Unterschiede zwischen den Gedecken. Die anfängliche leichte Verkrampfung weicht dem Verlangen, mir ein Kostüm zu wählen. Die Ofenschmidt sagt, das erste Zimmer ist das Tierzimmer. Ich überlege nicht lange und wähle ein Vogelkostüm. Eine Vogelmaske aus schwarzen Federn und schwarze Engelsflügel, die man wie einen Schulranzen mittels zweier Riemen auf dem Rücken trägt. Komm. Sagt die Frau und zieht an ihrer Zigarette, die auf einer langen Zigarettenspitze steckt. Im Folgen streife ich mir die Maske über und ziehe die Flügel an. In mir ist ein Ernst, wie ihn nur Kinder beim Spielen kennen. Es gibt den Unterschied zwischen Vorstellung und Realität nicht. Das Unnormale wird umgehend das Normale schlechthin. Ich vergesse meinen Namen. Ich vergesse meine Herkunft. Ich habe kein Alter mehr. Aber ich bin Kind. Ein Vogelkind. Ich merke, wie meine Schritte leicht werden. Mein von Federn eingefasster Blick gewinnt an Weite, als rückten meine Augen auseinander. Erst unmerklich, dann immer deutlich verwandeln sich meine Gedanken in seltsame Geräusche, dem Quietschen der Straßenbahnen nicht unähnlich, dem nervigen Rasseln rostiger Fahrradketten verwandt. Wir nähern uns der Tür. Links und rechts stehen zwei Ofenschmidtsöhne in Schweinskostümen. Sie halten vor ihren Schweinsmund und ihre Schweinsnase ihre Schweinsklauen. Zwischen den Klauen halten sie einen Grashalm, auf dem sie pfeifen. Jetzt höre ich meine Gedanken klarer. Sie klingen wie Vogelgezwitscher. Sie sind Vogelgezwitscher. Diese Töne sind mir unumwunden vertraut. Als habe ich mein Leben lang nichts anderes gehört. Als spräche sich darin alles aus, was ich je gedacht habe. Mit einem Grunzen weisen die Schweine mir den Weg und die Frau winkt mir zu, aber folgt mir nicht. Ich trete ein. Das Zimmer ist ein Zimmer. Ich trete nicht in eine andere Welt ein. Im Zimmer halten sich Großvater Gildenstern und zwei seiner Ofenschmidt-Enkelinnen auf. Der alte hat sich lediglich zwei Stierhörner auf den Kopf gebunden. Da mein Blick inzwischen dermaßen seinen Fluchtpunkt verloren hat und es in der Tat zwei Blicke geworden sind, gelingt es mir nicht, das Gesicht des alten Gildenstern zu sehen. Ich höre aus seiner Richtung ein Schnauben und Schnaufen. Ich spüre eine unerhörte Kraft von ihm ausgehen, die mir das Verlangen gibt, mich auf seine Schultern zu setzen. Ich bewege mich instinkthaft, aber keineswegs bereits instinktsicher in seine Richtung. Die zwei Enkelinnen tragen Katzenkostüme, hautenge, schwarze Samtcatsuits, angeklebte Schnauzhaare, zwei lustige schwarzweiße Ohren und einen Filzschwanz. Eine der beiden spielt Schlagzeug. Sie trommelt einen hypnotischen Rhythmus. Ich sehe aus einem Auge den alten Gildenstern in diesem Rhythmus die Beine bewegen. Er tanzt. Die zweite Enkelin, im exakt gleichen Kostüm wie ihre Schwester, nähert sich mir auf allen Vieren. Ich selbst gehe nicht mehr, sondern hüpfe regelrecht im getrommelten Rhythmus auf den Alten zu, nur mehr denkend, ich muss auf seine Schultern. Ich erkenne in der Katze keine Gefahr. Die Katze krallt sich einen Riemen meiner Flügel und faucht mich mit einem billigen Kaufhausmiauen an. In meinem Kopf, aber auch in meinem Bauch schwillt das Gezwitscher an, bekleidet das Trommeln und gibt mir eine neue Lust. So wie ein Auge nun die Katze im Blick hat und das andere den Stier, möchte ein Teil von mir die Katze küssen, ihr meinen spitzen Schnabel in die Zunge stechen, und der andere Teil spürt schon, wie sich meine Krallen im muskulösen Nacken des Stieres festhaken und der Kopf des Stieres hoch stößt, als wolle er Fliegen vertreiben. Der Alte nimmt mich tatsächlich auf seine Schultern und die Enkelin reibt ihren Kopf an meiner Hand und leckt an den Fingern und miaut das billige Miauen. Die andere hört nicht auf zu trommeln. Der Großvater tanzt mit mir durch den Raum, während die Katze um seine Beine streicht. Das Trommeln wird schneller und der Stier beginnt sich um sich selbst zu drehen. Mir wird schwindelig und ich sehe die Katze im Rhythmus des Schlagzeuges, erst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen. Dazwischen ist Schwärze. Bevor mir schlecht wird, springe ich vom Nacken des Stieres, flattere zwischen den Beinen der Katze hindurch und setze mich auf das Schlagzeug. Die Trommlerin stoppt sofort das Trommeln. Stille. Grandiose Stille erfüllt schlagartig den Raum und friert unsere Bewegungen ein. Der Stier mitten im Raum. Die eine Katze in der Nähe der Tür, die andere vor mir sitzend. Ich möchte mit den Beinen baumeln, doch nichts bewegt sich. Im Gesicht vor mir scheinen Schweißperlen festgeklebt zu sein. Ich habe Durst. Als ich aufhöre zu denken, als also auch das Gezwitscher in meinen Armen und Beinen und in meinen Knochen verstummt, bewegt sich mein Bein und schlägt gegen das kupferne Becken. Ein Tusch ertönt. Die Bewegungslosigkeit ist aufgehoben. Gelächter bricht aus. Das Gesicht vor mir lacht schallend und ich, als habe ich keine Macht mehr über mich, falle in das Gelächter ein. Alles an mir und in mir lacht. Das Lachen hört sich wie ein Lachen an. Meine Gedanken wandeln sich wieder in Worte zurück. Die Enkelin sagt. Du Süßer. Und streicht mir durchs Haar und zwickt mich in die Backe. Ich lege ihr meine Finger auf den Mund. Dann stehe ich auf und ohne ein Wort zu sagen gehe ich zur Tür. Großvater winkt mir zu und die Enkelin an der Tür miaut ein sehr unechtes Miau. Die Tür wird von den beiden Söhnen geöffnet, die wieder auf ihren Grashalmen pfeifen, während ich den Raum verlasse. Das Haus ist mir zur Gewohnheit geworden. Zur Welt. Zur einzigen Welt, die ich kenne. Ich kenne dieses Zimmer nun und ich kenne den Flur. Das ist meine Welt. Das ist ihre Grundlage, ihr Beginn. Von hier aus wird sich meine Welt ausdehnen. Von hier aus wird es jeweils eine weitere Tür geben, und sei es die zum Haus hinaus. Auch wenn das nur eine Notlösung wäre. Oder vielmehr eine Lösung unter sehr vielen. In der Vielzahl der Lösungen verliert diese gänzlich an Bedeutung. Die Flurfrauvenezianerin deutet auf eine Reihe Kostüme, die verschiedene Berufe darstellen. Friseur. Bäcker. Büroarbeiter. Maler. Ich entscheide mich für Maler. Ich frage nicht. Ich nehme den Pinsel und die Palette und ziehe den farbverklecksten Overall über meine normalen Kleider. Auf der Palette ist echte Farbe. Du hast gewählt. Sagt die Ofenschmidtvenezianerin. Gehen wir zu dem Malzimmer. Sagt sie, schreitet voran und ihr Kleid öffnet sich bei jedem Schritt. Sie trägt Netzstrümpfe. Ich spüre Lust, diese Beine zu malen. Sie zu bemalen. Die Frau deutet mir mit ihrem Zeigefinger ein klares Nein an und weist auf eine Tür. Niemand bewacht diese Tür. Der Finger ist ein unwiderruflicher Befehl. Ich trete durch die Tür. Im Raum bin ich ein Maler. Ich verschwinde. Der Maler existiert. Der Maler schaut sich im Raum um. An einem Klavier sitzt Frau Ofenschmidt. Sie ist nackt. Am Fenster steht Herr Ofenschmidt. Auch er trägt keinerlei Kleider. Sie sind Mann und Frau. Die Frau spielt eine melancholische Melodie. Der Mann summt leise dazu und schaut aus dem Fenster. Im Raum befinden sich keine Möbel. Die Wände sind weiß. Der Maler geht zu einer Wand und tupft verschiedene Farben darauf. Gelb. Grün. Rot. Braun. Die Tupfer verbindet er mit Strichen. Es sieht aus wie diese Spiele in Illustrierten, bei denen man Zahlen verbinden muss, damit eine Figur entsteht. Es entsteht keine Figur. Es bleiben Tupfer und es sind an der Wand nichts weiter als Striche zu sehen, die diese Tupfer verbinden. Der Mann wendet sich um und sagt in die Richtung des Malers. Male uns. Die Frau fügt hinzu. An. Der Mann dreht sich wieder zum Fenster hin. Die Frau beginnt mit einer lustigen Melodie. Sie sitzt sehr gerade. Ihre Füße treten auf goldene Pedale. Der Maler geht zu dem Mann. Alles hat in der gleichen kargen Klarheit statt, die den Raum ausmacht. Da ist nichts Billiges. Nichts Gekünsteltes. Jede Bewegung wie das Zerkauen eines Bissens während einer regulären Mahlzeit. Der Maler bemalt Nacken, Rücken, Po und Beine des Mannes. Er malt die Vorderseite eines Mannes auf die Rückseite des Mannes. Er malt den Adamsapfel in den Nacken, die Brustwarzen auf die Schulterblätter, das Geschlecht auf den Po und die Knie in die Kniekehlen. Die Frau spielt unterdessen Variationen eines Tangos. Der Maler tritt von seinem Werk zurück. Es überzeugt ihn. Der Mann dreht sich um. Sagt. Danke. Dreht sich wieder um. Der Maler geht zu der Frau ans Klavier. Er setzt sich vor die Frau aufs Klavier. Auf die Tasten. Eine Dissonanz gellt durch den Raum. Dann ist Stille. Die Frau verharrt. Der Maler malt in das Gesicht der Frau zwei Hände. Die Handflächen auf die Backen. Die Daumen berühren die Ohren, drei Finger gehen zur Schläfe, der andere wird über die Nase zur Stirnmitte hin gemalt. Der Frau scheinen die Pinselstriche gut zu tun. Sie ist entspannt. Der Mann beginnt leise zu summen. Kaum ist das Gemälde in ihrem Gesicht vollendet, schiebt sie den Maler beiseite und beginnt von neuem mit ihrem Spiel. Der Maler durchschreitet mit karger Klarheit den Raum, stellt sich an das andere Ende und betrachtet sein Werk. Die Finger im Gesicht der Frau scheinen sich im Mienenspiel zur Melodie zu bewegen. Der Mann wiegt seinen Körper nach vorne und nach hinten. Beugt er den Körper nach hinten, verbeugt sich der gemalte Körper vor dem Maler, beugt der Mann sich noch vorne, wölbt der Körper ihm Bauch und Geschlecht entgegen. Der Maler lacht. Der Maler nennt sein Bild Maria und Josef. Der schöne Josef und die wilde Maria, die ihrem gestrengen Mann ausbüchste, durch die Spelunken zog und heimlich den schönen Josef traf. Der Maler legt Palette und Pinsel auf den Boden und verlässt den Raum. Im Durchschreiten der Tür wird der Maler wieder zum Kind und das Kind wird ich. Ich verschwende keine großen Gedanken an das eben Erlebte, sondern akzeptiere es, wie man im Aufwachen den Schlaf akzeptiert, der gerade zu Ende gegangen ist. Im Flur steht die Venezianerin bereit. Ich habe Lust, sie zu umarmen. Sie sagt. Ja. Ich umarme sie und atme in den Bauchnabel unter ihrem Kleid hinein. Sie sagt. Nun kommt der Raum der dunklen Erinnerungen. Auch er ist ein Spaß, auch wenn er dir das, was du siehst, wie ein Alptraum erscheinen lassen wird. Die vielen Worte irritieren mich. Auch ohne Worte würde ich in jeden Raum eintreten, der kommt. Die Frau führt mich zu einem Schaufensterpuppenarmhaken, an dem mehrere Pappschilder an Schnüren hängen. Auf den Schildern steht. Mutter. Vater. Kind. Katze. Hund. Kühlschrank. Keller. Ich nehme das Schild Kind. Die Frau sagt nichts mehr, aber sie lächelt mir unter ihrer Maske zu. Sie lässt die Feder an ihrem Busen durch ihre Finger gleiten. Ich hänge mir das Schild um den Hals und wende es so, dass man die Aufschrift lesen kann. Wie ich soeben zum Maler geworden bin, werde ich, ich Kind, zu einem Kind. Das Kind, das ich bin, wird Kind, das ich nicht mehr bin und doch bin. Ich bin es ohne ich. Ich bin. Kind. Das Kind wendet sich noch einmal zu der Frau um, doch die ist nicht mehr da. Vor dem Kind ist keine Tür, sondern ein Vorhang. Das Kind schiebt den Vorhang beiseite. Hinter dem Vorhang sitzt ein Filmteam mit seinem Filmequipment. Die Leute machen Pause und essen Sandwiches. Da ist eine Tür. Ohne sich um die Leute zu kümmern, tritt das Kind durch die Tür. Das Kind betritt ein Haus, in dem es schon immer, seine ganze Kindheit lang gewohnt hat. Das Kind tritt in sein Zuhause ein. Das Kind ist zu Hause. Es ist in ihm nicht der geringste Zweifel. Alles ist, wie es immer war – Nimm doch das Kind weg! Um Gottes Willen, nimm das Kind weg! schreit es auf dem Off. Eine Regieanweisung, aus blechernen Lautsprechern. Sie hängen im Eck. Silbrig glänzend. Trompetenförmig, mit losen Kabeln verbunden.

Das Kind weiß nicht, seit wann sie da hängen, aber schon eine Weile. Manchmal stellte es sich auf einen Stuhl u. wollte in die Öffnung sehen. Doch es sah nur Dunkel. Am Kabel hingen Spinnenweben. An den Spinnenweben Spinnen. Die machten dem Kind Angst. Deshalb konnte es nur einschlafen, wenn die Zimmertür einen Spalt weit aufblieb. Wenn das Fenster von keinem Vorhang verdunkelt wurde. Wenn es die Sterne am Himmel sah oder den Mond u. die Wolken davor, die sich bewegten. Manchmal hörte das Kind ein Brummen oder ein Surren. Das kam aus dem Lautsprecher über der Kommode. Eine alte Holzkommode. Mit einem Triptychon von Spiegel obendrauf. Drei Schubladen übereinander. Mit dickem Knauf als Griff. Manchmal versteckte das Kind Zettel zwischen der Wäsche in der Schublade, zwischen den Unterhosen, den Unterhemden u. den verhassten langen Unterhosen. Das Kind schaute sich, wenn der Mond hell genug schien u. das Licht im Flur brannte, im Spiegel an, stellte die Seitenflügel so, dass es sich im Profil sah. Ein Schattenriss im Halbdunkeln. Das Kind streckte sich die Zunge heraus. Sie glänzte.

An diesem Morgen hatte die Mutter dem Kind kein Marmeladenbrot u. kein Glas Tee auf den Tisch im Esszimmer gestellt. Das Kind saß da u. starrte an die Wand. Dort hing ein Bild. Auf dem Bild schlängelte sich ein Fluss durch ein Birkenwäldchen. Daneben reihten sich die Fotos der Familienmitglieder. Der Vater mit den dicken Augenbrauen. Die Großmutter mit dem Dutt. Sie lächelte nicht. Der Vater auch nicht. Die Geschwister lächelten.

- Das Kind soll aus dem Haus gehen, schepperte die Stimme aus dem Lautsprecher. In diesem Raum hatten sie eine blassgelbe Farbe. Auch klebte über der Öffnung ein Fliegengitter. Man sah solche Fliegengitter im Fernsehen. Amerikanische Hauseingänge hatten solche Gitter vor der eigentlichen Tür. Man konnte diese erste Tür einfach aufziehen, sie klappte dann von alleine wieder zu. Das Kind saß oft auf dem Sofa u. sah amerikanische Filme. Frauen die weinten. Männer, die jemanden zusammenschlugen. Kinder, die sich unter dem Haus versteckten. Eine Frau saß auf dem Sofa u. lackierte sich die Zehennägel.

- Warum ist das Kind immer noch nicht aus dem Haus? fragte es aus dem Off. Die Stimme wurde eindringlicher, befehlender. Das Kind reagierte nicht, sein Blick hing an einer großen Vase fest. Schwarz mit roten Flecken. Kindshoch. Darin Strohblumen. Das Kind dachte sich ein X. Es sah nur den oberen Teil. Ein X, das sich dreht, so dass die beiden Schenkel einen Kreis bilden. Einen Kreis von getrockneten Blüten oder Blütenähnlichem. Büschel mit langen Haaren. Die unteren Schenkel versteckten sich in der Vase. Oder wie ein Männchen, ein Strichmännchen, ein Ballerinastrichmännchen, das Pirouetten vollführt. So schnell wie ein Propeller. Es sah dann aus, als stünde er wieder still. Am Ende der Ärmchen die Hände zu kleinen Fäusten geballt. Aus ihnen hingen Büschel von Haaren.

- Jetzt nimm mal jemand das Kind an die Hand!

Das Kind geht in die Küche. Im roten Boden sind kleine Risse. Mutter hatte Teller auf den Boden geworfen. Vater hatte gesagt, sie sei verrückt geworden. Mehr wusste das Kind nicht. An dem Tag hatte Vater es bei der Hand genommen, sie sind in die Stadt gegangen. Er hatte gesagt: Komm, wir essen eine Wurst. Er hatte dem Kind noch nie eine Wurst gekauft. Eine Wurst an der Pommesbude. An heißen Tagen hatte das Kind sein Taschengeld gezählt, war zur Bude gegangen u. hatte sich eine Wurst gekauft. Eine Rote. Dann hatte es sich auf eine der Bänke gesetzt u. die Wurst gegessen. Auf der Nebenbank saßen Jungs u. Mädchen u. das Kind dachte, irgendwie gehöre es jetzt zu denen. Auch wenn die keine Wurst aßen. Der Vater führte das Kind über den Zebrastreifen. Die Autos hatten sofort angehalten. Der Vater hatte nichts gesagt. Sie liefen schweigend nebeneinander her. Das Kind hatte auch nicht gewusst, was es hätte reden können. Was sollte es diesem Mann sagen. Es wusste, wenn es etwas Falsches sagte, würde es womöglich keine Wurst bekommen. Die Hand des Vaters war ihm unangenehm. Das Kind hätte die eigene gerne aus der des Vaters gezogen. Doch es traute sich nicht.

An der Bude kaufte der Vater dem Kind die Wurst, aber er kaufte sich selbst keine. Er stand schweigend dabei. Das Kind setzte sich nicht auf die Bank. Es aß im Stehen. Der Vater schien es eilig zu haben. Aber er fragte das Kind: Was machen wir noch? Das Kind wusste keine Antwort. Am liebsten wäre es wieder heimgegangen. Aber der Vater wollte offensichtlich nicht heim. Sie liefen die Straße entlang. Auf der linken Seite kam ein Blumenladen. In seinem Schaufenster standen Kakteen. Das Kind hatte zwei kleine in seinem Zimmer. In die hatte es mit einer Spritze Wasser gespritzt. Darauf gingen sie ein. Sie waren wohl unheilbar krank gewesen. Die Spritzen hatten nichts mehr ausrichten können. Das Kind hatte große Angst vor Spritzen. Die Kakteen hatten keine Angst. Es konnte einfach spritzen. Egal wohin. Die Nadel drang ein u. es drückte den gesamten Inhalt hinein. Nirgends kam es wieder heraus. Es blieb drin. Wie in einem Schwamm.

Vater und Kind liefen in den Wald. Das Kind kannte den Weg. Lief man ihn immer weiter, kam man zu einem Brunnen. Aber irgendwann sagte der Vater: Gehen wir zurück. Das Kind wäre jetzt gerne weiter gegangen.

Zu Hause war niemand gewesen. Auch Mutter nicht. Aber das Kind sah jetzt die Narben im Küchenboden. Es ging vor dem Kühlschrank in die Hocke u. holte sich zwei Scheiben Salami heraus, schnitt sich eine Scheibe Brot ab, schmierte Butter drauf, legte die Salamischreiben darauf u. biss hinein. Die Salamischeibe rutschte vom Brot. Es hatte sie nicht ganz durchgebissen. Es zog sie mit den Fingern aus dem Mund. Speichelfäden zogen sich zwischen der Scheibe u. seinem Mund in die Länge, bis sie rissen und ein Teil von der Scheibe herab hing u. ein Teil von seinem Kinn. Der tropfte dann auf den Pulli u. hinterließ einen dunklen Fleck.

- Raus aus der Küche! Kam die Stimme aus dem Küchenschrank. Da der Schrank bis an die Decke ging, musste der Lautsprecher irgendwo im Schrank hängen. Das Kind hatte ihn noch nie entdecken können.

Es lag keine Wurst im Kühlschrank. Im Brotkasten befand sich kein Brot. Der Vater nahm es nicht bei der Hand. Im ganzen Haus hörte man kein Geräusch. Das Kind setzte sich auf die Fensterbank u. ließ die Beine baumeln. Es beschloss, heute nicht zur Schule zu gehen. Es erinnerte sich an den ersten Tag. Die Mutter hatte es zur Schule gebracht. Auf der Höhe des Bahnhofs hatte sie ihm erzählt, dass sein großer Bruder den ganzen Weg zur Schule geweint habe. Das Kind weinte nicht. Aber es war ihm zum Weinen zumute. Aber es wollte das nicht zeigen. Dann würde irgendwann davon erzählt werden, so wie die Mutter jetzt von dem großen Bruder erzählte. Das wollte das Kind nicht. So sollte sie nicht über es erzählen. Nicht an dem nächsten Geburtstagsfest erzählen, alle sitzen am Tisch, es gibt Torte, die Freunde der Schwestern trinken Bier aus Gläsern mit Goldrand, alle lachen sehr seltsam u. die Mutter erzählt u. lacht auch, so wie sie sonst nie lacht u. das Kind darf keine Frage stellen, darf nicht fragen, worüber lacht ihr, u. es weiß trotzdem, dass man von ihm erzählt, was es schon wieder gemacht habe u. fragte es doch, bekam es eine böse Antwort, wie es einmal gefragt hatte, da erzählte die Mutter was u. das Kind verstand nicht u. die Mutter wollte nichts sagen, aber das Kind ließ nicht locker u. alles wurde so ruhig, da platzte es aus der Mutter raus, dass sie vom Schwänzchen rede, mit dem es Pipi mache. Das Kind wurde ruhig. Es wird nie mehr danach fragen. Was erzählen die von seinem Schwänzchen? Es wird nie mehr ein Wort darüber verlieren. Es will nie mehr, dass über es geredet wird. Egal was. Es will alle Geschichten der anderen anhören. Sie sollen nicht aufhören, Geschichten von anderen zu erzählen. Das Kind wird mitlachen, aber es will nie wieder, dass von ihm die Rede ist.

Das Kind spielte mit der Brotmaschine, drehte den Hebel, der das Schneideblatt antrieb. Es verstellte die Dicke der Scheiben. Die Brotmaschine löste sich von der Fensterbank u. klappte zusammen. Dabei kam das Kind mit dem Finger an das Schneideblatt u. schnitt sich in den Finger. Es schrie nicht. Es erschrak nur. Es stellte die Maschine wieder hin. Sie stand wie vorher da. Es fasste die Maschine nicht wieder an. Es hatte die Maschine nicht gelöst. Die hatte sich von alleine gelöst. Keiner würde etwas merken. Aus dem Lautsprecher kam keine Stimme.

Das Kind drückte das Gesicht gegen die Fensterscheibe. Draußen schien die Sonne. Auf dem Hof war eine Wasserpfütze. Darin spiegelten sich die Dornenhecken und die Bäume. Manchmal zuckte die Wasseroberfläche leicht. Das Kind wusste nicht warum. Vielleicht kamen kleine Bläschen aus dem Boden hoch. Vielleicht war in der Erde etwas, das diese Bläschen erzeugte. Das Kind hauchte gegen die Scheibe. Als es den Kopf zurückziehen wollte, klebte die Haut daran. Das Kind löste die Haut ganz langsam von der Scheibe. Aus den Dornenhecken flog ein kleiner Vogel hoch u. setzte sich auf den Ast einer Birke. Im Garten standen Tulpen. Rote u. Gelbe. Sie wiegten im Wind hin u. her. Das Kind hatte Lust, ihnen den Kopf abzuschlagen. Das Kind hatte Durst. Es sprang von der Fensterbank, drehte den Wasserhahn auf u. hielt seinen Mund in den Wasserstrahl. Mutter mochte das nicht. Sie sagte dann, nimm dir ein Glas.

- Wo ist das verdammte Kind? hörte das Kind die Lautsprecher im Esszimmer fragen. Das Kind seinerseits fragte sich, wo sein Bruder sei. Der müsste doch auch längst aufgestanden sein. Es war alleine. Es hatte keine Angst. Damals hatte es Angst gehabt. Es hatte mit der Großmutter ferngesehen. Ein Mann war auf einem Boot. Sonst war niemand auf dem Boot. Das Boot lag im Schilf versteckt. Der Mann ging in eine Kajüte. Er durchwühlte einen Seesack. Er wurde nicht fündig. Das Kind hatte sich etwas zu trinken holen wollen. Da sah es hinter den Birken ein grelles Licht. Zwischen den Ästen. Das Kind hatte ein solches Licht noch nie gesehen. Es rief seine Großmutter. Beide schauten sie aus dem Fenster. Die Großmutter wusste auch nicht, was das für ein Licht sein konnte. Die Großmutter hatte keine Erklärung. Sie sagte, das sei bestimmt der Mond. Aber was machte der Mond so tief zwischen den Bäumen. Das Kind dachte an ein Ufo. Das hatte es im Fernsehen gesehen. Die Großmutter hatte das Kind an der Hand genommen. Das Kind sah, dass die Großmutter Angst hatte. Die Großmutter zog das Kind wieder zurück ins Wohnzimmer. Im Fernsehen zerdrückte der Mann mit der Hand eine Kartoffel. Großmutter ging zur Haustür u. sperrte sie zu. Dann sahen beide irgendeinen anderen Film. Frauen lagen im Badeanzug am Strand. Die Großmutter sagte, das sei nichts für das Kind u. brachte es ins Bett. Sie legte sich auch schlafen. Das Kind konnte nicht schlafen. Aber dann war es doch eingeschlafen. Von dem Licht wurde nie mehr gesprochen.

Da war jetzt aber kein solches Licht draußen.

Das Kind hörte, wie jemand zur Haustür hereinkam. Das Kind hörte eine Frauenstimme, die nach dem Kind rief. Das Kind kannte die Frauenstimme nicht. Das Kind versteckte sich hinter dem schweren Vorhang neben dem Fenster. Am Fenster hing in einem gezackten Bogen eine weiße Gardine, aber links u. rechts neben dem Fenster waren rote, schwere Vorhänge, die das Fenster einrahmten. Dort hatte der Vater immer eine Flasche Wein stehen. Das Kind stellte sich so hin, dass die Flasche zwischen seinen Füßen stand. Der Vorhang berührte den Boden. Man konnte es, so dachte es, nicht sehen.

- Hast du das Kind endlich gefunden? kam es aus dem Lautsprecher. Die Lautsprecher schepperten. Man verstand die Stimme nicht mehr so gut. Als würden die Lautsprecher ihren Geist aufgeben. Das Kind dachte an die Spinne am Lautsprecherkabel. An die Fliegen, die oft am Fliegengitter saßen. Vater hatte deswegen eine Fliegenspirale an der Decke befestigt. Ein gelbes Klebeband, das sich nach unten schraubte. Setzten die Fliegen sich daran, konnten sie nicht mehr wegfliegen. Sie schlugen wild mit den Flügeln. Aber das nutzte nichts. Irgendwann war das Band ganz schwarz. Das Kind hatte oft zugeschaut, wie die Fliegen mit den Flügeln schlugen u. dann irgendwann Ruhe gaben, sich nicht mehr bewegten u. dann nur noch ein schwarzer Punkt auf dem gelben Band waren. Ein schwarzes Kügelchen. Das Kind hatte Angst, dass sich ein solches Kügelchen lösen könnte u. ihm ins Haar fiel. Wenn es mit seinen Haaren spielte u. etwas in den Haaren entdeckte, ein Klümpchen, dann ekelte es sich. Vor allem wenn es das Kügelchen auf der Kopfhaut hin u. her gerieben hatte. Sich nichts dabei gedacht hatte. Es ihm dann aber wieder einfiel, dass es ein Fliegenkügelchen sein könnte. Es schleuderte dann das Kügelchen aus seinem Haar, schaute nicht hin, wollte nicht wissen, was es gewesen war. Das Kind schüttelte sich nur u. wollte schnell vergessen, dass es da etwas in seinen Haaren gehabt hatte. Die Mutter fing die Fliegen mit der bloßen Hand. Stolz hielt sie die Hand dem Kind hin, öffnete sie langsam u. zeigte dem Kind die Fliege. Ihre Beinchen waren mehrmals zerknickt: Das Kind spielte manchmal mit einem Strohalm. Knickte ihn u. faltete ihn zu einem kleinen Paket zusammen. Wenn er dann auf dem Tisch lag u. sich wieder leicht öffnete, sah er aus wie diese Fliegenbeinchen.

Die fremde Frau ging ins Wohnzimmer. Die Glastür, die Esszimmer u. Wohnzimmer voneinander trennte, schepperte. Das Kind kannte sehr gut dieses Geräusch. Schließlich hatte es diese Tür oft zu fest aufgezogen oder zugeschlagen. Dann schrie der Vater das Kind an. Schalt es ein dummes Kind. Ob es denn nicht überlegen könne. Wenn die Scheibe kaputt ginge, was das kosten würde u. wer das bezahlen solle. Dann müsse es auf Jahre hin auf sein Taschengeld verzichten.

Das Kind hielt hinter dem Vorhang den Atem an. Zu allem Elend musste es auch noch dringend auf Toilette.

- Schau im Keller nach! sprach es aus den Lautsprechern.

- Der Scheißbengel hat sich bestimmt im Keller versteckt.

Das Kind hörte die Frau in den Keller gehen. Es lachte in sich hinein. Da kennt ihr aber das Kind schlecht, dachte es. Es würde nie in den Keller gehen. Es fürchtete sich vor dem Keller. Im Keller waren die Wände so kühl u. so grau, als wären sie von Spinneweben überzogen. Das Kind rannte immer in den Keller, wenn es etwas hochhohlen musste. Das Kind konnte sich kein Bild vom Keller machen. Das waren Räume, die gehörten für das Kind nicht zum Haus. Das war wie das, was unter der Haut ist. Das Kind wollte nicht wissen, was unter seiner Haut war. Wenn es hinfiel, sich wehtat, dann blutete es. Das Kind schaute die Wunde nie an. Es genügte ihm vollauf, dass da was Rotes rauskam. Das Kind hatte die Vorstellung, wenn es im Keller die falsche Schranktür aufmachte, dann würde die Wand zu bluten anfangen. Dann würde diese Wand nicht mehr aufhören zu bluten. An den Kellerwänden waren dunkle Flecken u. die sahen aus wie altes Blut. Außerdem wusste das Kind nicht, was sich hinter den Gläsern im Schrank verbarg. Irgendwelche Asseln oder Ohrenkneifer oder diese kleinen Blutinsekten, blutrote kleine Spinnchen, die angeblich Blut saugten. Das hatten seine Geschwister gesagt. Das Kind befürchtete, dass eine Assel oder ein Ohrenkneifer oder so ein rotes Ding unter seinen Pulli krabbelte oder an seinem Bein hoch trippelte.

- Schau auch im Heizungskeller nach! Kam es aus den Lautsprechern.

Das Kind schaute hinter dem Vorhang hervor. Es war alles wie immer. Auf dem Tisch lag die Tischdecke mit dem gehäkelten braunen Saum. Am Tischende lag eine Zeitung. Da saß Vater normalerweise u. las oder schlief, vorgebeugt, den Kopf auf den verschränkten Armen lagernd. Das Kind trat vor den Vorhang. Dabei fiel die Flasche um. Das Kind stellte sie schnell wieder hin. Es hörte sein Herz schlagen. Alles blieb ruhig. Das Kind ging durch den Flur, öffnete die Tür zur Toilette. Niemand war drin. Es schloss die Tür u. sperrte ab. Es konnte aufatmen. Es öffnete den Toilettendeckel, knöpfte die Hose auf, zog den Reisverschluss auf u. drückte die Hose bis zu den Knien runter. Es setzte sich auf die Klobrille. Es machte Pipi. Es hörte das Plätschern. Es drückte seinen Pimmel zur Seite, damit der Strahl keinen Krach mehr machte. Es stand wieder auf. Zog die Hose hoch, schloss den Reisverschluss, drückte den Knopf durchs Knopfloch, legte den Pulli wieder über die Hose. Es wagte nicht, die Spülung zu drücken.

- Schau im Klo nach! Schepperte es aus dem Lautsprecher.

- Lass den Keller, da ist es nicht!

Das Kind sperrte schnell auf u. rannte die Treppe hoch, rannte die nächste Treppe hoch, wollte auf den Dachboden. Der Dachboden war durch eine liegende Tür versperrt. Die musste man aufdrücken. Die Tür hing an einem Seil, das über ein Rad führte. An seinem Ende waren Steine befestigt. Zuerst musste man sich mit aller Kraft gegen die Tür stemme, dann musste man sich an die Tür hängen, damit die Steine nicht auf den Boden aufknallten. Auf dem Dachboden stand immer Hitze im Raum. Kaum war man oben, klebten die Kleider am Körper.

Das Kind traute nicht, die Tür aufzudrücken. Das Kind hatte beim Hochrennen nicht nach links u. nach rechts geschaut. Es hatte drei Stufen auf einmal genommen. Es hatte sich, als es um die Kurve bog, am Geländer festgehalten. Auf dem Boden lag ein Teppich. Er war mit Stangen auf der Treppe befestigt. Das Kind war so schnell gerannt, dass sich eine Stange gelöst hatte. Das Kind wäre beinahe gestolpert. Jetzt duckte es sich unter der liegende Tür. Die Tür war weiß gestrichen. Es liefen schmale Rinnen längs über die Tür. Das Kind spürte die Rinnen auf seinem Rücken.

- Du dumme Gans! schrie es aus den Lautsprechern.

- Du wirst doch endlich dieses Scheißkind finden. Du musst es endlich rausbringen. Wir können es hier nicht gebrauchen.

Schepperte es aus dem Badezimmer. Hier hing der Lautsprecher über der Badewanne. Wenn man zu heiß badete, bildeten sich an dem Lautsprecher kleine Tropfen. Die fielen einem irgendwann ins Gesicht. Man erschrak, denn sie waren ganz kalt.

Das Kind hörte, wie die Frau die Treppe hochstieg. Stufe für Stufe. Es hörte ein metallenes Geräusch. Das war die Stufe mit der losen Stange. Die Stangen steckten links u. rechts in einem Ring. Sie konnten leicht herausrutschen. Das Kind hörte, wie die Badezimmertür geöffnet wurde. Wie dann der Duschvorhang beiseite geschoben wurde.

Das Kind konnte die Dachbodentür nicht öffnen. Die Frau trat aus dem Bad. Sie rief:

- Da bist du ja.

Dann

- Ich hab das Kind gefunden. Der Kleine wollte sich auf dem Dachboden verstecken.

- Bring das Kind endlich raus! Kam es kaum mehr verständlich aus den Lautsprechern. Das Kind wollte nicht aufstehen. Die Frau zog es am Arm. Sie hatte lange braune Haare. Eine spitze Nase u. sehr rote Lippen. Sie trug ein weißes Hemd, Jeans u. Sandalen. Das Kind glotzte sie an. Die Frau zog es die Treppe herunter. Das Kind stolperte u. fiel auf die Frau. Da packte die Frau das Kind mit beiden Armen u. hob es hoch. Das Kind schrie u. schlug mit den Fäusten auf den Rücken der Frau. Die Frau gab ihm eine Ohrfeige.

- Wirst du jetzt Ruhe geben, du schlimmes Kind.

Das Kind erinnerte sich an seinen Vater, der immer gerufen hatte: Knecht, wo bist du?

Das Kind hörte auf zu schlagen. Es schrie auch nicht mehr. Es ließ sich tragen. Es sah im Spiegel an der Schranktür, der unten an der Dachbodentreppe stand, sich u. die Frau von hinten. Die Frau trug das Kind wie ein Paket unterm Arm. Dann sah das Kind die Balkontür. Draußen schien die Sonne. Die Blätter der Bäume rauschten. Ein Hemd auf der Wäscheleine flatterte im Wind. Das Kind stieß mit seinem Fuß eine Figur um, die auf dem Schuhschrank stand.

- Beeil dich u. pass auf, dass der Bengel nichts sieht! brummelte es aus den Lautsprechern.

Die Frau machte den Bogen zur Treppe hin. Dabei sah das Kind seinen Bruder im Schlafzimmer der Eltern stehen. Im Bett lagen die Mutter und ein Kind. Der Bruder rüttelte an der Mutter. Das Kind lag reglos neben der Mutter. Das Kind erkannte sich. Es selbst lag da. Es hatte sich gesehen. Es hatte sich ganz deutlich gesehen.

- Macht endlich die Scheißtür zu, sonst werden wir nie fertig! Kam es wieder klar u. deutlich aus den Boxen. Die Frau stieg die Treppe hinab. Das Kind sah die Treppenstufen, sah die quer liegende Stange, die aus den Ringen herausgerutscht war, sah an der Wand die schwarzen Metallbilder. Die Frau öffnete die Haustür. Das Kind war geblendet von dem Licht. Es schloss die Augen. Und sobald es die Augen geschlossen hatte, fühlte es, wie Kopf, Arme u. Bein ganz schwer wurden. Das Kind dachte daran, dass es am Abend zuvor zerdrückte Erdbeeren gegeben hatte. Die hatte ihm die Mutter hingestellt. Sie hatte ihm eine Scheibe vom frischen Brot abgeschnitten u. mit Butter bestrichen. In die Erdbeeren hat die Mutter Sahne gegossen. Das Kind hatte die Erdbeeren mit der Sahne verrührt. Das Kind sah jetzt die Erdbeeren u. die Sahnespirale in den Erdbeeren vor sich. Dem Kind tropfte Speichel aus dem Mund. Über der Vorstellung von den Erdbeeren vergaß das Kind alles u. schlief in den Armen der Frau ein.

Als das Kind am nächsten Tag erwachte, lag es in seinem Bett. Der Bruder hatte es geweckt. Sie müssten zur Schule. In der Küche stehe sein Frühstück, es solle sich beeilen. Das Kind stellte keine Fragen. Es aß das Brot mit Himbeermarmelade. Nach einigen Tagen war auch seine Mutter wieder da u. auf seinem Brot war am Morgen wieder Schwarzbeermarmelade. Alle taten so, als sei nichts gewesen. Auch die Lautsprecher waren verschwunden. Aber das Kind hatte später einen davon im Keller im alten Küchenschrank gefunden. Zwar in Einzelteile zerlegt, aber dennoch erkennbar. Das Kind stellte die Gläser mit den Nägeln u. den alten rostigen Schrauben davor. Später wurde das Haus verkauft. Alles löste sich in Nichts auf. Das Kind inmitten des Nichts sieht an sich herab – und erkennt das Schild mit der Aufschrift Kind auf seiner Brust. Es erkennt, dass es in einem leeren Zimmer vor einer Tür steht. Es geht durch die Tür hindurch. Vor der Tür sitzt noch immer das Filmteam und isst Sandwiches. Neben ihnen steht das Filmequipment. Das Kind wird wieder ich. Ich werde wieder Kind. Ich werde wieder zu dem zeitlosen Kind, das nicht empfindet wie ein Kind; das kein Alter hat. Das wahrnimmt ohne zu verstehen, aber mein Körper versteht, weil es ist, als ob ich keinen hätte, als ob ich nur diese Wahrnehmung wäre. Das ist kein Sehen oder Riechen oder Schmecken oder Tasten, das ist alles in einem. Ein ich im Raum. Ein Ich ohne Ausdehnung. Ein leerer Punkt im Raum, der alles aufsaugt, in den alles hineinfällt. Wie die Mündung eines Staubsaugerrohres. Ich bin dieser Strudel am Ende des Staubsaugerrohres. Die Flusen u. Staubmäuse fangen an zu zittern. Sie wehren sich und verschwinden dann in mir, ohne in mir zu bleiben. Sie durchschlagen mich ohne Widerstand. Ich gebe alles, was eingesaugt wird, frei. Der Staubbeutel, der sich im Innern des Gerätes bläht, gehört nicht zu mir. Der lärmende Motor ist nicht Teil von mir. Ich bin dieses ich. Ganz allein. Der Flur ist nur mehr ein unendlicher Korridor ohne Wände. Die maskierte Ofenschmidt ist verschwunden. Die Kostüme an den Schaufensterpuppenarmen sind verschwunden. Ich kann nicht sagen, dass ich ein Nichts in einem Nichts bin, ich bin vielmehr ein Etwas in einem Etwas. Ich bin ein Etwas-Ich in einem Etwas-Anderen, das vor einer weiteren Etwas-Tür steht, die keine Einfassung hat, keinen Rahmen, nur ein unidentifizierbares Etwas drumherum. Ich höre Etwas-Geräusche, die keinen Resonanzkörper finden, die wie die Staubmäuse durch mich hindurch gehen, wie ich jetzt durch diese Tür hindurch gehe, ohne sie wirklich zu öffnen, ohne dass sie wirklich geschlossen wäre, ohne dass das von irgendwelcher Bedeutung wäre. Ich Etwas-Ich trete in einen Etwas-Raum. Ich-Etwas kann keine Konturen erkennen, alles verschwimmt in ein Etwas ineinander, das mir doch nicht fremd ist. Das ineinander verschwommene Etwas ist mir nicht unbekannt, die Töne und Laute, die es verursacht, oder die durch es hindurchgehen, wie ich durch die Tür gegangen bin; wie die Staubmäuse durch mich hindurchgegangen sind, sind etwas, das nichts weiter als dieses etwas ist. Alles ist mit sich in dieser Verschwommenheit identisch. Ich bin Teil dieses Raumes und dieses Etwas und dieser Etwas-Geräusche. Ich werde in eine Etwas-Bewegung gezogen, ich zittere etwas und ich friere etwas und ich meine, etwas zu spüren, und ich bewege mich etwas von der Stelle, in einem etwaigen Rhythmus, in einer etwaigen Handlung, bewege ich mich auf und ab und gebe etwaige Schreie von mir, die nicht die meinen sind, die in diesem Etwas nur etwas durch mich hindurchgehen. Ich bin das nicht. Ich bin nicht diese Bewegung, an der ich in etwa teilhabe, die mich mitreißt, fortzieht, mich aus sich wieder ausspucken möchte, die nicht etwas mit mir zu tun haben will. Ich empfinde etwas. Dieses Etwas konkretisiert sich zu einem Raum, der kein normaler Raum ist, kein Kellerraum. Er ist etwas Hohes. Da müssen Mauern sein, da muss irgendwo ein Fundament sein. Irgendwo. So etwas in etwa. Ich spüre so etwas wie Höhenangst, wie ein höhenängstliches Bauchgefühl ohne Bauch. In etwa so etwas spüre ich. Und ich unterscheide etwas. Da steht in etwa ein Etwas, so ein staubsaugerrohrverwirbeltes etwas vor mir, in etwa regungslos. Dieses Etwas könnte eine Frau sein, so in etwa wie meine Mutter. Ich versuche ihr etwas zuzuschreien. In etwa so etwas wie geh weg oder mach was. In etwa so. Aber da ich keinen Körper habe, nur ein etwas, durch das diese etwaigen Schreiversuche hindurchgehen und einen etwaigen Staubsaugerbeutel füllen und diesem Beutel in etwa so etwas wie Schmerzen verursachen, sind diese Schreie nur in etwa so etwas wie Schreie, ist ihre Bedeutung nur in etwa so etwas wie eine Bedeutung, die ohne irgendeine Wirkung bleiben, wie ich in etwa meine. Ich schwebe durch diese Frau hindurch, die in etwa meine Mutter sein könnte, in der ich so etwas wie eine Verkrampfung wahrnehme, aber nur in etwa, da einmal in ihren Sog geraten, ich auch schon in so etwas gezogen werde, das ein Staubsaugerbeutel sein könnte, etwas Weiches, etwas Bettartiges, in dem ich so etwas wie zwei Personen wahrnehme, wenn sie denn Körper hätte, wenn sie denn so etwas wie eine Ausdehnung hätten, wobei ich sagen muss, sie haben so etwas wie eine Ausdehnung, sie sind in etwa nur so etwas wie Ausdehnung, eine kleine Ausdehnung und eine größere Ausdehnung, eine junge Ausdehnung und eine alte Ausdehnung, eine alte männliche Ausdehnung und eine junge weibliche Verkugelung, eine In-sich-gerolltheit, eine Verigelung, eine Verpuppung, in etwa so etwas, wenn da denn Körper wären, wenn da noch so etwas wie Maskierung wäre, wenn da so etwas wie ein Laut wäre. Aber da ist keine Laut, da ist es mucksmäuschenstill, da wird in der körperlosen Ausdehnung der Atem angehalten, wenn es denn so etwas wie Atem da geben würde. Da geschieht etwas Ungeheuerliches. Ich werde davon angezogen wie die Spinne in ihrem Netz im Eck des Zimmers, wenn ich sie mit dem Staubsaugerrohr einsauge. Das Netz flattert, das Netz reißt, die Spinne verschwindet in dem Rohr und das Netz ebenso. Aber in diesem Moment bin ich auch schon hindurch, habe nur dieses Ungeheuerliche gespürt, was da mit diesem alten männlichen etwas, das in etwa mein Vater sein könnte, und mit diesem jungen weiblichen etwas, das in etwa meine Schwester als kleines Kind sein könnte, geschehen ist, das ich aber nicht weiter fassen kann, da es unfassbar ist, und weil ich schon hindurch bin, in einen raumlosen Raum katapultiert, in dem ich raumlos und orientierungslos umher treibe, jedoch angetrieben von so etwas wie einer Erinnerung an etwas, das ich nicht zu erinnern vermag, weil ich ja in dem Moment, da ich es zu fassen versuchte, schon hindurch war und in etwa wohl das gedacht haben muss, was eine Spinne denkt, wird sie vom Staubsauger eingesaugt. Und ich denke, eine Spinne denkt nicht allzu viel, in etwa eher nichts, und dieses nichts ist für mich nicht fassbar, schon gar nicht, da ich gerade in etwa eher auch ein nichts bin, das nur irgendetwas in einem größeren nichtigen Irgendetwas ist, oben in einem höhelosen Turm, von dem ich nur sagen kann, dass es kein Keller ist u. keine Küche, weil es ja überhaupt nicht so etwas ist, sondern etwas anderes, das so etwas wie ein Turm sein muss. Während ich noch in etwa solche Gedanken habe, die keine sind, da ich nicht etwas bin, das denken kann, knalle ich plötzlich gegen eine Tür. Ich bin wieder etwas, das etwas ist. Das Substanz hat, das einen Körper hat. Ich habe wieder so etwas wie einen Körper. Ich werde wieder zu einem körperhaften Wesen, das so etwas Ähnliches ist wie ein Kind. Ich werde wieder zu diesem Kind, dass auf kindische Weise diese Tür öffnet und in den Korridor hinaus läuft, der wieder der Flur mit den Schaufensterpuppenarmen ist, an dem die billigen Kostüme hänge. Ich höre aus einem Raum Schlagzeuggetrommel und aus einem anderen Raum Klaviermusik und aus einem weiteren Raum Regieanweisungen und ich spüre einen Hauch, der Kälte und Wärme in einem ist und der mich entsprechend frieren und schwitzen lässt. Ich stehe in diesem Raum und kann nicht sagen, was in mir ist. Vielleicht Wut. Vielleicht Lust. Vielleicht Leere. Jedenfalls gerate ich in eine Raserei und in dieser Raserei schlage ich die Arme von den Wänden und reiße die Kostüme auseinander. Als wäre ich noch dieses Etwas-Wesen, habe ich keinerlei körperliche Empfindung. Ich tobe, wüte und wirbele ohne Widerstand. Ohne Kraft. Ja, ich bin völlig kraftlos, auch wenn es mir ein leichtes ist, alle Kostüme zu zerfetzen und die Schaufensterpuppenarme zu zerbrechen. Ja, ich bleibe völlig unversehrt, auch wenn ich sehe, dass ich rote Striemen auf den Armen habe und sicherlich auch im Gesicht; auch wenn ich spüre, dass Blut über meine Hände läuft und dass ich Blut im Mund schmecke und dass meine Hosen feucht werden. Ich zertrümmere alles, was ich finde. Die Blessuren, die ich davon trage, empfinde ich als Auszeichnung. Ja, aus dem Augenwinkel heraus betrachtet, sehe ich mich ausgezeichnet. Dekoriert. Schön. Wieder zur Ruhe gekommen, aber atmend wie ein Hund, verlasse ich das Haus der Ofenschmidts. Ich gehe wie ferngesteuert, aber in vollkommener Schönheit, zu der Garage neben dem Haus und nehme, als hätte ich nie etwas anderes gewusst, den Kanister mit Benzin, der an der Wand gestanden ist. Ich trete noch einmal durch die Tür in den Flur. Ich höre die Musik und die Anweisungen und ich spüre das Etwas des letzten Raumes und ich sehe die Verwüstung, die ich angerichtet habe. Ich schütte das Benzin in den Raum und zünde mit einem Streichholz das Benzin an. Ich drehe mich um und verlasse den Raum, die Musik, die Anweisungen und ein Etwas im Rücken, das in Flammen aufgeht. In mir wächst eine Angst, die ich umgehend vergesse. Ich gehe von dem Haus weg. Ich schaue mich nicht um. Ich denke, da es so hell hinter mir wird, dass dort wohl gerade die Sonne aufgeht. Dann wird alles um mich herum, die Wiese, das Dorf, der Weg hinab zu unserem Haus, das alles wird zu einem wirklichen Nichts, in dem ich als wirkliches Nichts verschwinde.


Die Kost der Nadelspitzen 56 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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