Dienstag, 16. Februar 2010

22

Als ich Kind war, stand die Dorfwiese voller goldener Nadeln. Diese Nadeln stachen nicht. Sie kitzelten die Haut desjenigen, der über die Wiese sprang, sich vom Gras der Wiese umwedeln ließ. Die Nadeln standen kindshoch. Die Wiese zog sich einen Hügeln hinauf und auf der anderen Seite wieder hinab. Mit Jan und Astrid spielte ich, als ich noch sehr klein war, darin verstecken oder Räuber und Gendarm. In den Ferien dauerten diese Spiele den ganzen Tag. Wie rupften ein paar Nadelhalme aus dem Boden und steckten sie uns in die Haare oder Astrid flocht Jan und mir Hals- oder Armbänder daraus. Wenn man einen dieser goldenen Halme zwischen die Lippen nahm, konnte man Vogelgezwitscher nachmachen. Frau Kommissarin, ich versichere Ihnen, dass ich die Wahrheit sage. Mit einem Nachbarsmädchen baute ich uns ein Nest inmitten der Wiese. Wir zogen uns bis auf die Unterwäsche aus und bespritzten uns mit unseren Wasserspritzpistolen und legten uns dann in die Sonne, wie ich es bei Astrid beobachtet hatte. Sie legte sich im Sommer in unseren Garten auf einen altmodischen, quietschenden Liegestuhl, der, wenn man nicht aufpasste, unter einem zusammen krachte, und las Illustrierte. Wir nahmen ein paar der goldenen Nadeln und hielten sie für Modehefte und lasen beide darin und schauten zu, wie auf unserer Haut das Wasser trocknete und an ihrer Stelle Schweißperlen hervor traten und dann von der Brust zum Bauch liefen, eine Spur hinter sich herziehend, und schließlich über die Seiten, was kitzelte, in die Wiese liefen. Am Ende des Sommers trafen sich die Leute aus dem Dorf, darunter auch Vater, Mutter und Großmutter, auf der Wiese, um sie mit Sensen zu mähen. Die Männer hatten kleine Eimer mit Wasser, in die sie ihre Wetzsteine tunkten, mit denen sie die Klingen ihrer Sensen schärften. Die Sonne brannte vom Himmel herab und es lag ein staubiger Duft in der Luft. Vater hatte sein übliches Taschentuch auf dem Kopf und Großmutter erzählte von seltsamen Wesen, die zwischen den Nadeln in der Wiese wohnen würden. Im Winter fänden sie Unterschlupf im Wald, man könne, wenn man genau schaue, die Löcher im Waldboden sehen, in die sie sich vor der Kälte zurück zögen. Sie würden die Wärme lieben und sie würden sich von den Spitzen der Nadeln ernähren. Sie bräuchten nur ganz wenig, aber es müssten unbedingt die Spitzen der goldenen Nadeln sein. Deshalb dürfe man die Wiese erst gegen Ende des Sommers mähen. Später wurde die Dorfwiese bebaut und unseren Garten mähte Vater mit einem Rasenmäher. Großmutter erzählte mir, dass diese Wesen, wenn sie keine Wiese mehr mit goldenen Nadeln fänden, in die Häuser gingen. Aber in den Häusern scheine die Sonne nicht, also würden sie frieren. Daher versuchten sie, sich an die Menschen anzuschmiegen, denen sie aber nur kalte Schauder verursachten. Wenn ich also im Sommer später einen kalten Schauder verspürte, dann wäre das so ein Wesen, das keine Wiese mehr gefunden habe, dem es sehr kalt sei und das vor Hunger ganz abgemagert sei. Sie würden zwar versuchen, sich von Haarspitzen zu ernähren, aber die schmeckten scheußlich und die Wesen würgte es davon und manche müssten sich übergeben. Nicht alle Flecken an den Wänden rührten, so Großmutter, von schmutzigen Kinderhänden her oder wären Schimmelflecke, sondern das Erbrochene dieser armen Wesen. Deshalb stellte Großmutter immer, wenn sie kam, Vasen mit goldenen Nadeln auf, damit kein Wesen hungern müsse. Seien aber die Nadeln ausgewachsen, böten ihre Spitzen keine Nahrung mehr. Die Wesen verließen die Wiesen und jetzt könne man mähen. Die Männer zogen ihre Hemden aus und die Frauen öffneten den obersten Knopf ihrer Arbeitsblusen. Alle trugen hohe Stiefel, um sich nicht gegenseitig mit den Sensen zu verletzen. Wir Kinder wurden mehrmals am Tag nach Hause geschickt, um kühles Bier zu holen. Mutter erzählte, als sie Kind war, wurde sie in die Wirtschaft geschickt, um Bier für die Männer zu holen. Das Bier wurde direkt in einen Eimer gezapft und sie musste aufpassen, dass unterwegs nichts verschütt ging. Natürlich hätten die Kinder es nicht lassen können, an dem Bier zu nippen. Sie habe das auch getan. Man durfte nur nicht zuviel trinken, denn dann wurde man betrunken und stolperte leicht. Ihr sei das nur einmal passiert und Großvater habe sie mit seinem Gürtel grün und blau geschlagen. Mit den Bierflaschen ging das nicht. Obwohl ich doch einmal etwas davon getrunken habe. Ich füllte die Flasche mit Wasser auf. Vater erzählte ich, ich hätte die Flasche schon zu Hause geöffnet, damit er sie nicht mehr extra öffnen müsse. Vater durchschaute das Spiel und zur Strafe musste ich die ganze Flasche austrinken. Mir wurde schlecht und ich legte mich in die Wiese und schlief meinen Rausch aus. Meinen ersten Rausch mit 5 Jahren. Am Abend hatte ich einen mordsmäßigen Sonnenbrand, dessentwegen ich drei Nächte nicht schlafen konnte. Am vierten Tag schälte sich die Haut von meinem Körper und ich dachte, wenn das so weiter geht, sehe ich bald aus wie das Skelett, das ich in einem Buch gesehen hatte und das ich für ein Lebewesen gehalten hatte. Großmutter hatte zwar mal etwas vom Tod erzählt, aber ich wusste nicht, was das war. Ich wusste nur, dass ich nie sterben würde. Denn in den wenigen Märchen, die ich kannte, hieß es am Ende, dass wer nicht gestorben sei, auch heute noch leben würde. Und heute war ja jeder neue Tag. Also lebten sie, so schloss ich, auf immer. Ich beschloss zu denen gehören zu wollen, die am Ende des Märchens nicht starben, sondern auch heute noch leben. Jedes neue heute. Sterben mussten also die anderen. Wenn ich mit dem Nachbarsmädchen in der Wiese lag und die Schweißperlen an uns herunter kullerten, stellten wir uns vor, dass diese Perlen stürben, so dass wir ewig lebten. Wir schworen uns, dass wir nie sterben werden. Als ich Jan davon erzählte, lachte er mich aus. Ich dachte dann, wir werden ja sehen, wer zu denen gehört, die sterben, und wer zu denen, die leben werden. Lange glaubte ich, Großmutter stünde auf meiner Seite. Bis sie eines Tages nicht mehr kam und Mutter laut schrie und Vater sagte, sie sei gestorben. Ich wurde ganz traurig. Nicht weil sie tot war, sondern weil ich mich so sehr in ihr getäuscht hatte. Die wenigen Märchen, die ich kannte, hatte sie mir doch erzählt. Sie hatte doch Bescheid wissen müssen. Sie hätte es doch wissen können. Oder war sie zu den Wesen in die Waldlöcher gegangen? In den Monaten, bevor sie aus meinem Leben verschwand, hatte sie immer wieder darüber geklagt, wie sehr sie fröre. Selbst wenn die Sonne schien, wollte sie, dass wir die Heizung anschalteten. Und in der Nacht sollte das Licht brennen. Sie behauptete dann, es sei Tag und die Sonne würde scheinen. Sie warf uns vor, dass wir am helllichten Tag die Rollläden schlössen und ihr die Sonne zum Leben stehlen wollten. Aber zu der Zeit, als die Männer und Frauen noch auf der Dorfwiese zusammen kamen, fror Großmutter nie. Sie trug an diesen Tagen keine Strümpfe unter ihrem Rock. Und sie schwang die Sense ebenso schnell und weit wie die Männer. Am Abend wurden die goldenen Nadeln zu großen Haufen aufgeschichtet. Selbst wenn Jan Astrid auf die Schultern nahm und Astrid mich, konnte ich nicht über den Haufen schauen. Wenn Vater mich in die Höhe hielt, fehlte bis zur Spitze des Nadelbergs noch eine Kindslänge. Mutter kam dann mit Kartoffeln in ihrer Schürze. Alle Frauen hatten von zu Hause Kartoffeln in ihren Schürzen, die sie bis zur ihren Brüsten hochhielten. Die Kartoffeln wurden rund um die Haufen und die Nadeln geschoben. Wenn es anfing zu dämmern, zündeten die Frauen die Nadelberge an und die Männer schlugen die Bierflaschen gegeneinander und wir Kinder mussten noch nicht nach Hause. Die Feuer loderten höher in den Himmel hinein als die Wipfel der Bäume am Wiesenrand. Die Funken stieben und wir mussten aufpassen, dass keine Funken in unseren Haaren landeten. Manchmal traf ein Funken den Arm oder das Bein und es tat kurz weh und ich schrie aua und die anderen lachten. Die Frauen fischten mit Stöcken die garen Kartoffeln aus den heruntergebrannten Haufen und gaben jedem eine in die Hand. Wie bliesen und warfen die Kartoffeln von einer Hand in die andere, bis sie abgekühlt genug waren, um sie zu schälen. Wir zogen die Schale mit den bloßen Fingern ab. Natürlich konnten wir nicht warten und ich hatte jedes Mal Brandblasen an den Fingern. Aber die taten erst am nächsten Tag weh. An diesem Tag fühlte ich mich, wenn ich von den schwarzen, verbrannten Schalen ein kleines Stück Kartoffel abbiss, wie eins der Wesen, die den Sommer über in die Spitzen der Nadeln gebissen hatten, die sicherlich in ihre Gaumen stachen. Ich stellte mir vor, dass die Wesen am Morgen mit ihren Zungen ihre Gaumen abtasteten und dass es sich anfühlte wie bei mir, wenn ich mir abends den Gaumen verbrannt hatte, weil ich zu gierig aß. Mutter hatte immer behauptet, ich esse zu gierig. Als ich in der Schule das Sprichwort von der goldenen Nadel im Heuhaufen hörte, musste ich laut lachen und dachte, wir hatten eine Wiese voller goldener Nadeln und Haufen, größer als die Schule, nur aus diesen Nadeln. Und ich dachte, das ist wie mit denen, die sterben, und denen, die heute noch leben. Ich gehörte eindeutig zu letzteren. Wir suchten als Kinder keine goldenen Nadeln in den Heuhaufen. Ich hatte mir vielmehr ein Nest darin gebaut. Zusammen mit dem Nachbarsmädchen. Wir hatten uns geschworen, wir werden an jedem heute leben. Und wir werden uns jeden Sommer in die Wiese legen und zuschauen, wie die Schweißtropfen an uns herab laufen und in den Wiesenboden hinein sterben, während wir leben werden. Als ich in die Schule kam, wurde die Wiese schon nicht mehr mit den Sensen gemäht und auch das Nachbarsmädchen war verschwunden. Also hatte auch sie zu denen gehört, die gestorben sind. Was hätte ich sonst denken sollen. Ich musste heulen, weil ich mir nicht mehr sicher sein konnte, zu wem ich gehörte. Aber notfalls gab es noch die Löcher im Waldboden. Noch heute halte ich nach ihnen Ausschau. Noch heute, da ich immer noch lebe und die anderen von damals vermutlich alle gestorben sind. Außer der Frau Kommissarin.


Die Kost der Nadelspitzen 22 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen