Dienstag, 16. Februar 2010

37

An einem sehr heißen Sommernachmittag hatte Jan ein Zelt im Garten aufgebaut. Das Zelt war ein Geschenk von Astrids Freund. Es roch nach Dachboden und nach Urlaub in einem anderen Jahrzehnt. Beim Auseinanderfalten des Stoffes entdeckten wir in den Falten kleine Insekten, die entweder tot ins Gras rieselten oder noch sehr lebendig versuchten, sich vor dem Sonnenlicht zu verstecken. Wie die Vampire im Fernsehen. Ich war fasziniert und angeekelt zugleich. Die Hitze flirrte über der Straße und der Teer war zu heiß, um barfuss zu laufen. Trotzdem rannte ich ohne Schuhe in den Tante Emma Laden und kaufte Imprägnierungsspray. Jan hatte mir das Wort vorgesprochen und ich hatte es mindestens zehn Mal nachgesprochen. Im Laden hatte ich es dann doch vergessen, aber nach meinen anschaulichen Schilderungen des Zeltes wusste Frau Anna, die Inhaberin, was ich wollte. Jan erzählte ich davon natürlich nichts, sondern hielt ihm einfach das Spray unter die Nase. Meine Fußsohlen brannten. Der Teer war ganz weich gewesen. Ich dachte, so ist Urlaub. Zwar gab es in unserem Dorf einen Campingplatz, doch gingen wir da nie hin. Ich bin auch als Kind nie in dem See unseres Dorfes geschwommen. Erst als Jugendlicher. Nachts. Und nackt. Doch das ist eine andere Geschichte, Frau Kommissarin. Eine andere Ermittlung. Ein anderer Fall. Wir dürfen die Fälle und die Ermittlungen nicht durcheinander bringen. Nichts verwechseln. Die Fakten historisch nicht zweifelhaft werden lassen. Schwarzer, weicher Teer, den man riechen konnte und der die Füße schwarz machte, das war Urlaub. Wir sind nie in Urlaub gefahren. Ich feierte nie Kindergeburtstag. Es gab keine anderen Kinder in meinem Alter. Ich spielte mit Jan oder Astrid oder den Freunden der beiden. Soweit sie mich dabei haben wollten. Ich hatte immer das Gefühl des Geduldetseins. Bzw. des Auf-die-Nerven-gehens. Kinder, die miteinander auf einem Sofa tollen, kannte ich nur aus der Sesamstraße. Wir wohnten in der Beethovenstraße. Jan sagte, das ist dadadadaaaa. Das sei ein Anklopfen. Aha. Bei mir klopfte niemand an. Aber es gab den heißen Teer unter den Füßen. Und den Wald. Und die Erdlöcher. Und die Wesen in der Wiese. Und doch, einmal, ja, das Nachbarsmädchen. Das Nest. Aber das war nur einmal, Frau Kommissarin, Sie müssen mir glauben. Mutter musste bügeln und Vater musste arbeiten. Als das Zelt stand, krochen wir sogleich hinein. Es roch nach Keller. Nach Spinnweben. Nach Asseln. In der Erinnerung sehe ich rosa Wunden in der Steinwand im Keller. Vater hatte die Konservendosen beiseite geräumt. Und rosafarbene Flecken kamen zum Vorschein. Darin wimmelten die Asseln und die Ohrenkneifer und die Silberfischchen. Ich dachte, wenn ich da den Finger reinstecke, zuckt die Mauer zusammen. Wie gekochte Rippchen so rot. An Neujahr machte Mutter immer gekochte Rippchen mit Sauerkraut. Die Rippchen waren schrumpelig und erinnerten mich an die Haut auf dem Handrücken von Mutter. Oder am Po meiner Großmutter, wenn Sie bei uns schlief, bei mir im Bett. Sie zog sich neben dem Bett aus und ihr Nachthemd an. Ich sah ihren rosafarbenen Hintern. Wie ein gekochter Babyhintern. Wie gekochte Rippchen. An den Rippchen hing schwabbeliges weißes Fett. Auf Mutters Handrücken war das nicht, aber an Großmutters Hintern. Er bestand fast nur aus diesem schwabbeligen Fett, das ich nie essen mochte und von dem Vater behauptete, es sei das Beste. Ich mochte auch kein Sauerkraut, das aussah wie gekochtes Gras. Gekochter Großmutterhintern mit gekochtem altem Gras. Und damit fing das neue Jahr an. Ich aß nur das Kartoffelpüree. Mit den in Butter angebratenen Brotstückchen drin. Im Fernsehen hatte ich einen weißen Strand gesehen. Das Püree erinnerte mich an nassen, weißen Sand von so einem Strand. Ich hatte Lust, meine Hand in das Püree zu drücken. Einmal machte ich es. Mutter gab mir eine Ohrfeige und wischte mir zur Strafe die Finger nicht sauber. Ich musste mit verschmierten Fingern fertig essen. Ich durfte sie auch nicht ablecken. Das Püree wurde hart und spannte auf der Haut. Wenn ich die Finger aneinander drückte, klebten sie. Das mochte ich nicht. Aber der Abdruck meiner Hand im Püree hatte mir gefallen. Noch lieber hätte ich einen Fußabdruck hinterlassen. Aber die Gelegenheit ergab sich nie. Zumindest nicht als Kind. Jan kehrte mit einem Handfeger das Zelt sauber. Der Zeltboden klebte an den Knien. Ich zerdrücke unterdessen mit dem Finger Ameisen im Gras. Das machte Spaß, vor allem wegen der Angst, sie könnten sich rächen. Wenn eine mein Bein herauf krabbelte, schüttelte es mich und ich schaute sofort zwischen den Zehen nach, ob sich in dem Ritz keine versteckt hält. Dann musste Jan auf sein Zimmer Hausaufgaben machen. Ich war allein. Das Zelt stand. Ich kroch hinein. Innen drin herrschte brütende, drückende Hitze. Ich fing sofort an zu schwitzen. Ich zog mein T-Shirt und meine kurze Hose und die Unterhose aus. Ich legte mich auf den Rücken und horchte, ob jemand käme. Niemand kam. Mutter bügelte. Vater war auf der Arbeit. Jan machte Hausaufgaben. Und Astrid war mit ihrem Freund ins Dorf gegangen. Die saßen immer an der Pommesbude rum. Ich wusste, dass sie da Currywurst aß, obwohl Mutter es ihr verboten hatte. Mutter sagte, du kannst zu Hause essen. Außerdem trank sie Cola. Und die sei nicht gesund, sagte Mutter. Vater trank die auch und er beschwerte sich immer, dass er damit nicht aufhören könne. Wenn Mutter nicht bügelte, saß sie im Keller und rauchte. Vater hatte im Keller immer eine angebrochene Colaflasche stehen. Und eine angebrochene Bierflasche. Vater trank im Kartoffelkeller. Mutter rauchte im Heizungskeller. Und Großmutter trank Schnaps im Waschkeller. Mutter hatte sich nach dem Mittagessen eine Stunde im Garten gesonnt. Für mehr hatte sie, wie sie sagte, heute keine Zeit. Die Sacktücher deines Vaters bügeln sich nicht von selbst. Deine Unterhosen auch nicht. Hatte sie gesagt. Ich lag nackt auf dem Rücken im Zelt. Außen an der Zeltwand liefen Fliegen auf und ab. Ich sah sie als Schatten. Wenn etwas aus dem Baum aufs Zelt niederfiel, schreckten sie auf. Die schwarzen Punkte waren weg. Auf meinen Bauch setzte sich ein Marienkäfer. Zuerst hatte ich mich erschrocken. Aber Marienkäfer mochte ich. Er machte mich mutig. Ich wollte mich nicht rühren. Ich stellte mir vor, dass ein Ohrenkneifer mein Bein hoch krabbeln würde. Großmutter hatte gesagt, die gehen in die Ohren und fressen sich in den Kopf hinein. Mit ihren Scheren am Kopf würden sie sich durchs Gehirn schneiden. Davon würde man blöd werden. Genau wie der Sohn der Hartmanns, der nicht sprechen konnte und dem immer der Speichel aus dem Mund tropfte und der seine Finger so komisch verdreht hielt. Oder wie die alte Brunnenwald, deren Kopf zuckte und die dazu „NaNa“ schrie. Großmutter sagte, die habe viele Männer gehabt und habe den Männern den Kopf verdreht und sei nackt in ihrem Haus umeinander gelaufen und deshalb habe der Herrgott nun ihr den Kopf verdreht, indem er ihr die Ohrenkneifer in die Ohren geschickt habe und ihr die Lust an den Männern aus dem Kopf habe fressen lassen. Ich schloss die Augen und sah zehn, zwanzig Ohrenkneifer an meinem Körper hoch laufen. Weil ich doch so gerne nackt war und weil ich doch mit dem Nachbarmädchen in der Wiese gespielt hatte und weil ich auf dem Dachboden die Unterhose von Astrid angezogen hatte. Es juckte mich an der Seite. Aber ich rührte mich nicht. Ich genoss es. Ich sagte, sollen sie mir doch in die Ohren krabbeln, sollen sie mir doch das Gehirn zerfressen. Dann würde Mutter aufhören zu bügeln und Vater nicht zur Arbeit gehen und mir seine Cola geben, wie er es tat, wenn ich krank war. Und ich durfte den ganzen Tag im Bett bleiben und der Doktor kam extra meinetwegen und brachte mich zum Lachen. Ich blieb liegen. Öffnete aber die Augen. Kein Ohrenkneifer weit und breit. Auch der Marienkäfer war fort. Nur Schweißperlen liefen vom Bauch seitwärts an mir herunter. Ich stand auf. Auf dem Zeltboden sah man den Umriss meines Körpers. Die Beine. Der Po. Die beiden Schulterblätter. Kein Kopf. Mein Abdruck hatte keinen Kopf. Ich sagte mir, mein Kopf ist unsichtbar, die Ohrenkneifer können ihn nicht finden. Ich legte mich auf den Bauch. Ich atmete direkt über dem Zeltboden. Sog diesen Dachbodenkellerurlaubsgeruch ein. Turnhallengeruch. Speichel tropfte mir aus dem Mund. Wie am Fenster beschlug der Boden bei jedem Atemzug. Mutter rief nach mir. Ich erschrak, antwortete nicht. Sie rief noch einmal. Ich antwortete, ich komme. Schnell zog ich mich an und rannte in die Küche. Sie hatte Erdbeeren zerdrückt und mit Sahne übergossen. Dazu lag ein Buttebrot mit Zucker obendrauf bereit. Eins für mich, eins für Jan. Ich schaute, welches größer war und nahm natürlich das größere. Am liebsten hätte ich zuerst von seinen Erdbeeren genascht. Aber Mutter war in Reichweite. Also ging ich ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher an und aß meine Erdbeeren. Mutter mahnte, dass ich ja keinen Zucker auf den Teppich streuen solle. Sie habe erst gesaugt. Ja ja. Im Fernseher lief eine Zeichentrickserie über einen Weltraumhelden. Zusammen mit ihm schlug ich alle Bösewichte des Universums. Der letzte Rest des Brotes fiel aufs Sofa. Ich legte ein Kissen darauf und hoffte, Mutter werde es nicht merken. Und wenn, würde ich behaupten, dass es Jan gewesen sei. Ich ging in mein Zimmer. In mir war es, als ob ich weinen müsste. Ich wusste nicht warum. Auch weinte ich nicht. Ich konnte nur weinen, wenn ich hingefallen war und es blutete. Aber jetzt blutete ich nicht. Wenn ich mit dem Finger auf meine Kniescheibe drückte, wurde es dort erst weiß und dann, wenn ich den Finger weg zog, rot. Aber es blutete nicht. Alles war heil.


Die Kost der Nadelspitzen 37 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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