Dienstag, 16. Februar 2010

41

Jan war der Gegenspieler. Ich wollte haben, was er hat. Hatte ich es, wurde es langweilig. Bekam ich etwas, was er nicht wollte, wurde es mir langweilig. Wir buhlten um Mutter, wir rieben uns aneinander im Kampf gegen Vater. Er wählte nur die falschen Waffen. Andere als ich. Mit denen konnte ich nicht gut umgehen. Es waren die, die ich für überväterlich hielt. Ich wollte eher von unten kämpfen. Ihm die Erde unter den Füßen wegziehen, nicht in himmlische Gefilde abheben, damit ihm das Genick bräche. Wissen Sie, Frau Kommissarin, warum ich heute alleine bin? Es gibt niemanden, dem ich die Frau wegnehmen könnte. Frau Kommissarin, Sie sind alleine wie ich. Sie waren immer alleine. Deshalb gab ich keinen Deut auf sie. Sie waren nicht die Frau eines anderen, eines Konkurrenten. Ich konnte sie nicht rauben, ich konnte mich Ihnen nicht als der bessere präsentieren, insgeheim wissend, dass sie damit ganz schön angeschmiert wären. Meine Rache für den Neid. Meine Rache dafür, dass Sie eines anderen gewesen waren, dass Sie einen anderen bevorzugt hatten. Eine Frau, die zu mir käme und sagte: ich mag dich, was interessiert die mich. Aber ist sie eines anderen, dann interessiert sie mich sehr wohl. Oder kann ich mit ihr zumindest einen anderen ausstechen, schau ich hab die schöne gekriegt und du die fette. Immer war es so. So nahm ich mir das Leben: es war immer das Leben eines anderen. So wie Mutter sich das Leben mit mir nehmen wollte. Und Vater wollte, dass Mutter an mir starb und er mich dann für sich alleine hätte, wenn ich dann nur ein Mädchen geworden wäre. Eine kleine, süße, dreijährige Fickmarie. Ich wollte immer das Leben eines anderen führen. Ausführen. Das Leben auf das Fest des Lebens ausführen, auf sein eigenes Fest, um selbst hier den Gastgeber zu beeindrucken. Aber ansonsten sollte mich das Leben gefälligst in Ruhe lassen. Sollte Mutter mich in Ruhe lassen. Mich nicht weiter stören. Ich war so störanfällig. Sich das Leben eines anderen zu nehmen ist sehr anstrengend. Man ist immerzu müde. Außer wenn es gerade nicht da ist, dann irrt man umher, sehnsüchtig und gehetzt und getrieben und süchtig. Wo bist du, Scheißleben. Wo bist du Bruder, damit ich dir zeige, hey, ich habe dein Leben. Hey, es sind deine Erdbeeren, die ich gerade esse. Meine stehen noch unangetastet im Kühlschrank. Hey, das ist jetzt mein Freund. Wie, du willst ihn nicht mehr? Dann will ich ihn auch nicht mehr. Du hast ja recht, Brüderchen, der ist langweilig. Der taugt nichts. Deshalb konnte ich auch nie lange bösen sein, wenn er etwas von mir nahm. Mir bedeuteten die Dinge, die Menschen nichts, Frau Kommissarin. Sie bedeuteten mir nur etwas, solange sie nicht mein waren. Solange ich sie noch nicht besaß. So lange ich sie ihm wegnehmen musste. So lange sie noch sein Leben waren. Ich will euer Leben. Ich habe keins. Ich habe kein eigenes bekommen. Das ging nach der Geburt irgendwie verloren. Oder vielmehr während der Schwangerschaft. Irgendwer hat es mir genommen. Mutter hatte es mir genommen, indem sie sich das Ihre mit meinem, mittels meinem nehmen wollte. Sich aus der Verantwortung stehlen. Daraus wurde nichts. Aber was wurde aus mir? Seither mache ich das Nämliche. Ich nehme mir Leben. Ich nehme mir euer Leben. Frau Kommissarin, haben Sie ein Leben. Aber Kommissare haben kein Leben. Das haben sie längst an einer Frittenbude gegen eine Currywurst und ein Bier eingetauscht. Kommissare sind chronisch lebenspleite. Genau wie ich. Wir sind nicht lebensmüde, wir sind lebenspleite. Aber komplett. Unseren Freunden allerdings geht es immer schlechter als uns. Sie sind stets arme Schweine, von denen wir behaupten, sie hätten es besser als wir verdient, was wir wirklich glauben, weil wir uns ja für sie interessieren, wir uns für sie den Arsch aufreißen. Sie tun es aber keinesfalls für uns. Dürfen sie nicht. Sind wir denn so arme Schweine, dass wir uns helfen lassen müssen. Was seid ihr für Freunde, wenn ihr das von uns denkt. Wir müssen stets von anderen nehmen, denn die sind uns ja verpflichtet, weil wir ihnen, obwohl sie arme Schweine sind, insgeheim weil sie arme Schweine sind, nicht von der Pelle rücken. Deshalb sind wir gut im Aufspüren von Verbrechern. Ich als Anatom, Sie als Kommissarin. Wir kennen das Metier. Zum Verbrecher hat es bei uns nicht gelangt. Oder vielmehr, das hätte uns gelangweilt. Ich wollte Jan nichts stehlen. Ich wollte, dass das Leben von selbst zu mir kommt. Ich wollte, dass seine Freunde freiwillig lieber mit mir etwas unternahmen. Ich wollte seine Erdbeeren vor seinen eigenen Augen verzehren. Er sollte es wissen. Nichts sollte heimlich geschehen. Das ist langweilig. Noch was ich heimlich tat, sollte er irgendwie mitbekommen. Ich erzählte es anderen so, dass er es hören konnte. Mochte er mich auch für blöd halten, zu blöd, um etwas geschickt zu verbergen, der Preis war es mir wert. Hauptsache, er wusste es. Später wollte ich, dass die Männer sehen, wie ihre Freundin zu mir überwechselt. Am besten sollten diese Männer weiterhin meine Freunde bleiben. Sie sollten verstehen, dass es keine böse Absicht war. Dass die Frauen das nicht aus Gemeinheit taten, sondern aus Dankbarkeit. Ja, sie waren dem Mann dankbar, dass sie durch ihn mich kennen lernten. So sollte es sein. Und jetzt: Es macht keinen Spaß mehr. Jan, du kannst Mutter haben. Du kannst alles haben. Ich glaube kaum, dass mein Herz zufällig für eine schlagen wird, die du auch kennst. Vielleicht wird es für eine schlagen. Aber das ist eine andere Geschichte. Damals hörte es auf zu schlagen. Es wurde nicht aus Stein. Ich war nicht der Kohlenmunk Peter aus dem Märchen. Leider nicht, wie ich damals dachte. Aber es schlug nicht. Nicht für andere. Kaum für mich. Eher gegen mich. Ich brauchte das Schlagen derjenigen, die eines anderen waren. Deren Herz für einen anderen schlug. Nur wenn es anfangen würde, für mich zu schlagen, würde auch meins wieder gescheit schlagen. Dachte ich. Deshalb war es allerdings immer auch wichtig, Jan oder Astrid oder andere Freunde dazu zu bringen, dass sie stark waren und attraktiv. Dass sie sich aber für arme Säue hielten u. für hässlich. Dass sie in der Misere stecken, die sie durch mein Ermutigen vertrieben. Dass sie also erst stark u. attraktiv wurden. Begehrt waren. Sie mussten nun ihrerseits Freunde haben und Freundinnen. Und sie mussten gute Freunde haben. Keine Hunde. Keine Schweine. Keine Ratten. Nein. Ehrliche, offene, attraktive, kluge Freunde und Freundinnen. Damit es sich lohnte, sie auszuspannen. Mir ihr Leben zu nehmen, wie mir meins genommen worden war. Alleine, allein an meinem Tisch sitzend oder unter ihm liegen, hatte ich stets den Drang, mir mein eigenes Leben zu nehmen. Wäre das doch nur möglich gewesen, dann hätte ich zumindest gewusst, ich habe eins gehabt. Aber alleine in meinem Zimmer hatte ich keins. Und selbst wenn Jan da war, war ich alleine im Zimmer. Er hatte sich in seinen Plan eingeplant wie eine Raupe in ihren Kokon. Also spann ich mich auch ein. Innerlich. Wie man so sagt. Auch wenn ich darüber nur lachen kann. Auch wenn mir so war, als ob es mir innerlich alles zerrisse. Ich innerlich verbrenne. Zu Rauch und Asche. Im Verzehren und Vergehen wollte ich mir mein Leben nehmen und es mir gegen die Schmerzen einführen, von mir aus auch als Zäpfchen oder mit dem Klistier. Aber es ging ja nicht. Immer und immer wieder ging es ja nicht. Erbe von Mama. Bei ihr war es auch nicht gegangen. Jan und ich hatten sie gefunden. Jan hatte die Tür aufbrechen müssen. Sie lag da. Wie tot. Daneben die leere Tablettenschachtel. Sie hatte uns noch nicht mal Lebewohl gesagt. Ich wollte ihr mein Leben geben. Es mir nehmen und ihr geben. Jan gab ihr seins. Oder was er für seins hielt. Sein geplantes Leben. Ich versuchte mir meins zu nehmen, um es ihr zu geben. Ich versuchte so viele Leben zu nehmen, weil ich mir ihres nicht mehr nehmen konnte. Sie hatte es sich ja nicht einmal selbst nehmen können. Sie hatte gar keins. Das war das Geheimnis. Mutter hatte kein eigenes Leben. Wie Jan kein eigenes Leben hatte. Wie ich kein Leben hatte. Hatte Vater uns unsere Leben genommen. Oder hatte er uns eher seins gegeben und damit die unseren vertrieben? Das scheint mir, Frau Kommissarin, plausibler. Vater wollte sein eigenes Leben nicht haben. Und er spritzte es uns ein. In seiner Waschküche. Alle zwei Wochen. Mit seinem roten Klistier. Spritzte er uns sein Leben in den Arsch hinein. Damit wir unseres ausschissen und schön Platz für das seine ist. Da nutzten Jans Pläne nichts gegen. Und mein Geschrei auch nicht. Auch nicht unser Schweigen. Wir schwiegen uns einander unsere Leben zu, wie man einander totschweigt. Frau Kommissarin, wir nahmen uns nicht die Leben, wir gaben sie uns. Jeder von uns führte das Leben des anderen. Deshalb war es nichts als ein Überleben, das das Leben über hatte. Eine Leiche werden Sie hier nicht finden, auch wenn alle nicht mehr am Leben sein sollten. Wir hatten alle Glück, Frau Kommissarin.


Die Kost der Nadelspitzen 41 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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