Dienstag, 16. Februar 2010

54

Ich sitze in der Küche. Vor mir der leere Tisch. Draußen fällt Regen. Das Licht brennt. Die runde Neonröhre der Lampe summt ein monotones Lied. Niemand sonst summt in diesem Haus ein Lied. Vater lehnt mit dem Rücken an den Esstisch des Esszimmers. Mutter steht am anderen Ende des Tisches und faltet Wäsche. Ich sage, dass ich Hunger habe. Sie lässt das Handtuch aus ihrer Hand zurück in den Wäschekorb fallen. Sie kommt in die Küche, geht an den Kühlschrank, öffnet ihn und nimmt die Wurst, den Käse, die Butter und das Glas mit Essiggurken heraus. Sie stellt die Sachen auf den Tisch. Dann nimmt sie aus der Schublade ein Messer und eine Gabel, aus dem Schrank einen Teller und ein Glas und stellt alles vor mich auf den Tisch. Sie öffnet den Brotkasten, trägt das Brot zur Brotschneidemaschine und schneidet mir zwei Scheiben ab, die sie auf meinen Teller legt. Dann geht sie zurück zu ihrer Wäsche und faltet das Handtuch. Ich fische eine Gurke aus dem Glas und schneide sie entzwei. Ich streiche Butter auf das Brot. Die Butter ist hart und das Streichen reißt Löcher in die Scheibe. Ich belege das Brot mit einer Scheibe Kochschinken und einer Scheibe Butterkäse. Darauf lege ich die zweigeteilte Gurke. Ich esse das Brot. Jeder Bissen wird in meinem Mund zu einem Brei, den ich mit einem Schluck Saft herunter schlucke. Es würgt mich im Hals. Ich schaue die Wand an. Ich höre meinen Vater atmen und meine Mutter leise stöhnen. Ich schaue aus dem Fenster. Regentropfen fallen auf den Boden und färben die Erde grau. Meine Finger riechen nach Gurkenwasser. Eine Gurkenhälfte rutscht vom Brot und fällt auf den Boden. Ich hebe sie auf, trage sie zum Spülbecken und lasse Wasser darüber laufen. Dann lege ich sie wieder auf mein Brot. Die zweite Scheibe belege ich mit Salami und Emmentaler. Und einer in zwei Teile geschnittenen Essiggurke. Gurkenwasser tropft durch die Löcher der Brotscheibe. Eine Salamischeibe fällt auf das Wachstischtuch. Vater setzt sich in eine andere Position, aber immer noch mit dem Rücken zu Mutter. Er schläft im Sitzen. Mutter faltet ein Hemd. Mich würgt. Ich stehe auf und lasse alles auf dem Tisch stehen. Vater steht auf, kommt in die Küche. Er zwängt sich in der Tür an mir vorbei. Er nimmt den Teller, das Messer, die Gabel und das Glas und stellt sie in die Spüle. Dann spült er sie ab, reibt sie mit dem Geschirrtuch trocken und stellt sie wieder in den Schrank. Er klemmt das Gurkenglas unter seinen Arm und legt den Käse und die Wurst auf den Gurkenglasdeckel. Er wendet sich zum Kühlschrank, öffnet ihn und stellt alles hinein. Ich stehe immer noch im Türrahmen. Vater zwängt sich wieder an mir vorbei und setzt sich, mit dem Rücken zum Tisch, auf seinen Stuhl. Mutter nimmt den Wäschekorb mit der zusammengefalteten Wäsche und geht aus dem Zimmer. Vater nickt sofort wieder ein. Nach einem unendlichen Augenblick gehe ich auf mein Zimmer und lege mich auf mein Bett und versuche, nichts zu denken. Ich fühle unter meiner Wange das raue marokkanische Tuch. In einer Hand ruht meine Stirn, die andere umklammert die Matratzenkante. Mein Bauch wölbt sich über dem Kissen. Er füllt sich mit dem Weinen, das meinen Augen und meinem Gesicht fremd geworden ist, und schmerzt.


Die Kost der Nadelspitzen 54 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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