Dienstag, 16. Februar 2010

27

Dass ich Jan bewunderte, steht außer Frage. Bei ihm schien alles zu funktionieren, jede Rechnung aufzugehen. Er war nicht geplagt von Leidenschaften und törichten Spielen, die der eigenen Lust dienten, wie z.B. Ameisenvölker abfackeln. Dass ich kein Verständnis von ihm bekam, hat das ganze nur verstärkt. Wie sollte ich denn auch Verständnis bekommen, bei mir funktionierte ja nichts. Ich konnte noch nicht mal meine Schokolade einteilen. Er hatte immer noch, wenn ich meine schon längst verschlungen hatte. Und ihm die seine abzuluchsen, gelang mir nicht. Allerdings hätte ich es so gerne gehabt, dass er mich lehrte, wie das geht, dass etwas funktionierte. Aber er lehrte mich nichts. Ich war nicht teil seines Plan. Mit den allgemeinen Sätzchen, wie man was machen solle, konnte ich nichts anfangen. Ich war für ihn, so hatte ich den Eindruck, wie einer seiner lästigen Pickel, die überflüssigerweise immer wieder kamen.

Jan und ich gingen ins Dorf, wir sollten Brot kaufen. An der Kreuzung mit dem Blumenkübel stand ein kleiner, schwarzhaariger Junge. Hier boten auch Scherenschleifer ihre Dienste an. Nun stand da dieser kleine Junge. Er bot nichts an. Er war schmutzig im Gesicht und seine Haare hingen in dicken Zotteln in die Stirn. Er sprach mich an. Hee, du, willst du ein Geschenk? Ich ging sofort zu ihm. Jan wollte mich weiterziehen. Ich sagte: Lass mich, und konnte meinen Arm aus seinem Griff frei machen. Jan sagte: Komm jetzt. Ich dachte nicht im Traum daran. Ich war neugierig. Der Junge hatte große, braune Augen. Außerdem wollte er mir was schenken. Da war ich besonders neugierig. Er hielt zwischen seinen Fingern ein kleines Figürchen aus Holz. Hab ich selbst geschnitzt, sagte der Junge. Jan fasste mich wieder am Arm und zischte: Komm. Ich schüttelte ihn ab. Er war mir lästig. Stör mich nicht. Muss der immer so nerven. Plötzlich schoss eine Frau hinter dem Kübel hervor und schrie: Kleiner Baumschlag, untersteh dich und nimm etwas von dem kleinen Teufel hier an. Woher kannte sie meinen Namen. Ich versuchte sie zu ignorieren. Als wäre sie nur ein weiteres Blatt an dem Strauch im Kübel. Die Frau kreischte: Der Junge hat den bösen Blick. Der Junge lachte mich an. Ich lachte zurück. Jan zog. Die Frau zeigte mit dem Finger auf mich: Das sag ich deiner Großmutter. Die wird dich schon lehren, mit solchen Bastarden zu sprechen. Der Junge gab mir das Figürchen und steckte mir noch ein zusammengefaltetes Blatt Papier zu. Die Frau schrie: Das bringt Unglück. Du bist verflucht. Schmeiß das weg. Jan flüsterte: Der will bestimmt Geld dafür. Ich schaute den Jungen an, sagte danke, wie ich noch nie danke gesagt hatte. Die Frau scheuerte dem Jungen eine. Ich schaute sie böse an und rief: Sie alte Ziege. Jan zog mich weiter. Der Junge rannte davon. Ich steckte das Figürchen in meine Hosentasche. Jan wollte, dass ich ihm das Figürchen zeigte. Ich streckte ihm eine Nase hin und sagte: Da kannst du lange warten. Du wolltest mich wegziehen. Jetzt brauchst du auch nicht zu sehen, was der Junge mir gab. Die Frau rief uns noch nach, dass ich Unglück über die ganze Familie bringen werde. Ich streichelte die Figur in meiner Hosentasche. Sie war glatt und hart und hatte im Gesicht eine kleine Nase, die den Finger kitzelte. Ich war stolz auf dieses Geschenk. Ich wollte dem Jungen auch was schenken. Später in der Bäckerei schaute ich mir das Blatt Papier an. Darauf war Gekrakel, wie ich es auch oft kritzelte. Ich zeigte es Jan und fragte, ob da was drauf stünde. Er sagte nein und wollte danach greifen. Ich zog es rechtzeitig zurück und steckte es wieder ein. Jan ließ mich zur Strafe auf dem Rückweg die Tasche tragen und schwieg den ganzen Weg über. Das Blatt Papier versteckte ich auf dem Dachboden in einer Kiste. Das Figürchen hatte ich immer bei mir, bis ich es Jahre später verlor. Beim Trampen ist es mir aus der Hosentasche gefallen. Den Jungen habe ich nie wieder gesehen. Ich hatte immer Angst, meine Großmutter würde nach ihm fragen. Das tat sie aber nicht. Auch Jan hielt zu Hause seine Klappe. Ich war der festen Meinung, dass mir das Figürchen Glück bringt. Ich bin der festen Meinung, dass das Figürchen mir Glück brachte.

28.

Frau Kommissarin, was heißt hier, ich solle mich exakter erinnern. Erinnerung ist zum einen der Giftschrank der Kellerleichen und zum anderen die Schatzkiste eines fantasiebegabten Kindes. Mir sind die Inhalte beider leider im Alter aus Rationalisierungsgründen in eins geschüttet worden. Die Anweisung dazu kam von Ihnen. Erinnern Sie sich etwa nicht mehr?

Jan sagte, er wolle raus hier. Jan sagte, die Kinder vom Dorf hätten ihn enttäuscht. Jan sagte, er habe es versucht. Aber was sei passiert? Beim Spielen hätten sie ihm die Schaukel unters Kinn knallen lassen. Oder sie hätten mit dem Finger auf ihn gezeigt. Machten sie bei mir später auch, Frau Kommissarin. Eine Spielkameradin habe plötzlich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Sie habe nicht zu uns nach Hause kommen wollen. Sie habe nicht mehr anrufen wollen. Sie habe auch nicht mehr gewollt, dass er anrufe. Er verstehe das nicht. Ein anderer habe ihm ins Gesicht gesagt, er sei langweilig. Dabei versuche er doch nur, vorwärts zu kommen. Ein Ziel zu erreichen. Sein Ziel zu erreichen. Hat Astrid gesagt, dass Jan gesagt habe. Jan redete nicht besonders viel. Er redete nicht ins Blaue hinein. Jan plante. Und er hielt sich an seine Pläne. Ich plante auch. Bombastische Pläne. Davon erfüllte sich immer nur ein Bruchteil. Dann war ich stolz. Deshalb wurden die nächsten Pläne noch bombastischer, damit auch der Bruchteil, der sich erfüllen würde, größer werde. Jan sagte, das sei Schwachsinn. Jan sagte, so könne man erkennen, ob wer was tauge. Ob sich eben die Pläne erfüllten. So könne man sich ausrechnen, ob eine Person gut oder schlecht sei. Jan hatte keine Lust, meine komischen Gedanken anzuhören. Er fragte, was das solle. Was ich damit bezwecke. Was das für einen Sinn habe. Woher sollte ich das wissen. Er war der Ältere. Ich wartete darauf, dass er mir sagte, was Sinn habe. Was gut sei und was schlecht. Ich konnte mir das nicht ausrechnen. Ich konnte mir das auch nicht kaufen. Ich konnte mir nichts kaufen, was teuer war. Ich sparte nicht. Jan sparte. Jan sagte, das sei für später. Wann denn später sei, fragte ich. Das wisse er nicht. Was denn später sei, wollte ich wissen. Das könne er auch nicht sagen. Ob ich mir denn nichts wünschen würde, das ich kaufen wolle. Was ich mir wünschte, gab es nicht zu kaufen. Also überlegte ich mir etwas. Spielzeugautos wären nicht schlecht. Eine Spielzeugtankstelle. Aber das konnte ich mir doch zu Geburtstag und Weihnachten schenken lassen. Einen neuen Teddy. Der alte war inzwischen etwas haarlos. Was ich denn mit ihm gemacht hätte, fragte Jan. Er sei alt geworden, das könne man doch im Fernsehen sehen, dass man dann die Haare verliere, antwortete ich. Jan war es lieber, wenn ich nichts sagte. Jan sagte, ich störe ihn. Jan sagte, dass ihn niemand mehr besuchen komme, weil er kein eigenes Zimmer habe. Die, die gekommen waren, hatten aber nicht zu mir gesagt, du störst. Die hatten mich nicht weggeschickt. Ich fand die immer recht lustig. Auch bei Astrid. Ich ging immer zu ihr ins Zimmer, wenn sie Besuch hatte. Jan sagte, er wolle später nur mit geachteten Leuten zusammen sein. Leuten mit einem schönen Haus und einem schönen Garten. So wie unseres, fragte ich. Da schaute er nur seltsam. Jan lag auf seinem Bett, ich lag auf meinem Bett. Wir lagen nie zusammen auf einem Bett. Der Raum war exakt aufgeteilt in seinen Bereich und meinen Bereich. Wobei ich es damit nicht so genau nahm. Schon gar nicht, wenn er nicht da war. Dann schaute ich mir an, was er in seinen Schubladen versteckte. Aber er hatte da nichts versteckt. Da waren seine Schulsachen. Da waren seine wenigen Spielsachen. Hatte er überhaupt Spielsachen. Ich kann mich nicht wirklich erinnern. An der Wand hing ein Poster von Amerika. Und eins von Paris. Jan sagte, da wolle er später mal hin. Nach Amerika. Nach Paris. Nimmst du mich mit? Natürlich nicht. Da könne er mich nicht dabei gebrauchen. Ich wollte nicht weg. Was sollte ich wo anders. Also zumindest nicht weiter als auf die Wiese oder in den Wald der Ofenschmidts. Oder so weit wie Großmutter mich mitnahm. Nachbars Hund, den hätte ich gerne in die Welt geschickt. Ich wollte auch nicht in ein anderes Haus. Ich wollte auch nicht zu anderen Leuten. Ich war gern bei Astrid im Zimmer, wenn sie Besuch hatte. Und sie hatte immer anderen Besuch. Jan hatte nicht so oft Besuch, aber die, die kamen, waren nicht böse zu mir. Wozu wo anders hingehen, wenn Leute kamen. Zu unseren Eltern kam nie jemand außer Großmutter. So ist das wohl, wenn man erwachsen ist, dachte ich damals. Also wollte ich niemals erwachsen werden. Und mal ehrlich, Frau Kommissarin, hatte ich so unrecht? Zu Ihnen kommt doch auch niemand. Jan sagt, er wolle mal Familie. Er wolle Kinder. Was sollte ich mit Kindern, ich war doch selbst eins und hatte nicht vor, daran was zu verändern. Erwachsen sein hieß doch sparen und keinen Besuch bekommen. Jan sagte, wenn man alles richtig plant, kommt auch Besuch. Man müsse ihn nur mit einplanen. Man müsse nur in eine Stadt, wo es genügend Leute gebe, um sie einzuplanen. Wie in Amerika, da gebe es genügend Leute. Oder in Paris, da gebe es auch genügend Leute. Ich zog meine Decke über mich. Diese Leute kannte ich doch nicht. Und was ist mit Vater und Mutter. Mutter nähme er mit. Dann sähe sie auch mal was von der Welt, sagte Jan. Nicht immer nur kochen und bügeln und fernsehen. Und Vater? Jan lachte und sagte, einer müsse sich ja ums Haus kümmern. Jan mochte unseren Vater nicht sonderlich. Wir mochten ihn alle nicht sonderlich. Außer wenn er mich auf seinen Schultern trug. Oder wenn er mich mit in den Keller nahm und ich Holz ins Feuer unseres Ofens werfen durfte. Aber nicht wenn er schrie. Nicht wenn er mich haute. Jan haute er oft. So dünn Jan war, so war er doch ein bisschen ungeschickt. Eine Vase fiel runter. Oder er kam beim Spielen gegen das Auto. Und schon bekam er Schläge. Vielleicht auch, weil er schon älter und größer war. Deshalb wollte ich nicht älter und größer werden. Älter und größer werden hieß, Schläge zu bekommen. Dass er das nicht einkalkulierte. Jan sagte, er wolle schnell groß werden, damit er weg könne. Damit er sich ein eigenes Haus kaufen könne. Damit er eigene Kinder haben könne. Dafür musste man also sparen. Ich wollte kein Haus. Wir hatten eins. Ich wollte nicht weg. Ich wollte nicht in die Schule. Jan ging in die vierte Klasse. Nach dem Sommer sollten er aufs Gymnasium und ich in die Grundschule. Das Gymnasium war nicht bei uns im Dorf. Ich wollte nicht, dass Jan aufs Gymnasium geht. Astrid ging schon aufs Gymnasium. Astrid hatte nachmittags nie Zeit wegen der dummen Schule. Astrid ging auch immer öfter zu Freunden, die nicht bei uns im Dorf wohnten. Astrid heulte auch oft wegen der dummen Schule. Schule bedeutete keine Zeit haben, heulen müssen und woanders hingehen müssen. Kein guter Plan. Abends, wenn ich im Bett lag, nahmen mich die lustigen Gespenster von der Dorfwiese mit, von denen Großmutter erzählt hatte. Wir flogen über die Wiese und sie zeigten mir, wie man an den Nadelspitzen saugt. Dann nahm sie mich mit in die Wolken und ich schlief ein. Jan sagte, das seien Märchen. Ich schrie, das stimme nicht. Jan sagte, ich solle nicht schreien. Ich schrie um so lauter. Jan kam zu meinem Bett und schlug mich. Ich solle jetzt endlich still sein. Ich schrie so laut ich konnte. Da schlug er mich auf den Kopf. Nun war ich still. Außerdem warf er den Teddy aus dem Fenster. Ich rannte aus dem Zimmer. Jan lachte. Ich setzte mich ins Wohnzimmer aufs Sofa und war ganz still. Mutter bügelte nebenan. Astrid war in ihrem Zimmer und machte Hausaufgaben. Der Teddy weinte. Ich nicht. Ich riss ihm die Augen aus. Wer keine Haare hat, braucht auch keine Augen.


Die Kost der Nadelspitzen 27 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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