Dienstag, 16. Februar 2010

20

Großvater, Mutters Vater, habe im ersten Weltkrieg gekämpft. Ich habe diesen Mann nie gesehen. In Gedanken steht er vor mir wie der Jesus von Rio de Janeiro, diese überdimensionale Kitschfigur auf dem Corcovado. Wir hatten in der Garage auch so eine Jesusfigur. Sie soll tatsächlich auf Großvaters Grab gestanden haben. Wir spielten Freunden einen Streich und legten ihnen die Figur nachts ins Zelt. Sie hatten getrunken und am Morgen eine wahrhaftige Erscheinung. Ich sehe Großvater als solche Figur, aber als Soldat. Als Erster-Weltkrieg-Soldat. Ich sehe ihn als solche Figur im Schützengraben von Verdun. In schwarzweiß. Der erste wie der zweite Weltkrieg geschahen für mich in schwarzweiß. Ebenso die DDR. Zeigen sie im Fernsehen Farbbilder, wirken sie auf mich wie nachkoloriert. Wie die Jesus-Figur nachmodelliert wirkt. Großvater als Soldat mit ausgebreiteten Armen und mit Gewehr über der Schulter und Tornister auf dem Rücken und Soldatenmantel umgehängt ist die authentische Figur. Die anderen Landser schleppen ihn von Graben zu Graben. Zehn Meter vor, dann wieder zehn Meter zurück. Die Hände der anderen Soldaten zittern. Eine Hand haben sie auf dem Rücken, wie Hitler es zu tun pflegte. Z.B. als er kurz vor Ende des zweiten Krieges die Kindersoldaten ehrte. Großvater zitterte nicht. Er war ja aus Stein. Ich sehe die Franzosen über diese Soldatenfigur lachen. Ich sehe Großvater in seinem Grab lachen, als sie ihm die Jesusfigur obendrauf gestellt haben. Endlich ist er das Steinerne losgeworden. Es hält ihn in der Erde. Wie gerne wäre er einfach im Schützengraben geblieben. Zehn Meter vor, zehn Meter zurück. Zu Stein erstarrt. Er zitterte nicht. Die anderen hielten es für Mut. War es Mut, als er später seinen Hund erschoss, nur weil er einen Fremden gebissen hatte? Er hatte gehofft, der Hund möge zu Stein erstarren. Er hätte ihm vorm Haus zwei Gräben geschaufelt. So hätte der Hund immer von einem Graben zum anderen wechseln können. Vor und zurück. Großvater starb, als man ihm ein Enkelkind in die Arme gab. Die Wärme des kleinen Herzens war ein zu großer Schock für seine steinerne Hülle. Sie bekam einen Sprung. Einen Riss. Und der Riss ging mitten durch das steinerne Herz. Und als es noch einmal schlagen wollte, brach es entzwei. Großmutter musste sich nun nicht mehr heimlich aus dem Haus stehlen, um in die Kneipe zu gehen. Sie trank Schnaps in der Kneipe und hörte den Geschichten der anderen Männer und Frauen zu. Zu Hause schrieb sie dann Kochrezepte auf, deren Zutaten aus dem Aufgeschnappten bestanden. Ich bin sicher, dass es Zaubergerichte waren. Wenn man aß, was man nach diesen Rezepten zubereitet hatte, passierte etwas mit einem. Vielleicht wurde man steinern. Vielleicht spürte man aber auch auf ewig den Herzschlag des Enkekindes. Großmutter hatte, so sagten die Ärzte, ein starkes Herz. Vielleicht hatte sie manches nicht richtig verstanden. Denn als sie steinalt war, traf sie der Schlag im Kopf. Selbst da wollte ihr Herz nicht aufhören zu schlagen. Ihr warmes Herz. Wie ich den Krieg in schwarzweiß sehe, so sehe ich den Schlag, der sie traf, als etwas Eisiges. Ein Blitz aus Eis geschlagen. Wenn Großmutter während ihrer Besuche nachts neben mir im Bett lag, hörte ich ihr Herz schlagen. Und ich sah die Eisblumen am Fenster, die draußen blieben, wenn Großmutter da war. Sie behauptete immer, sie würde sich im Schlaf nicht drehen. Aber ich wusste, sie drehte sich. Und wenn ich mein Ohr auf die Matratze legte, hörte ich ihr Herz pochen. Und es war das Pochen, das in die Eisschicht des Fensters die Blumen schnitzte. Gerne hätte ich heute einen Strauß dieser Blumen neben meinem Bett stehen. Ich wüsste, ein Herz mit einem warmen Schlag wäre in meiner Nähe. Als Großmutter schon sehr alt war und ich noch ein kleines Kind, konnte ich sehen, dass der Schlag ihres Herzens nicht mehr treffsicher war. Zulange war ihr Mann, der Soldat, schon tot. Ihr Herzschlag ritzte seine Rezepte und Blumen direkt ins Fleisch ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes. Wenn Großmutter zu Besuch war und der Schnaps ihre schöpferische Lust auf Hochtouren brachte, schlug ihr Herz wild um sich. Wir Kinder empfanden es manchmal als Kitzel, manchmal als Geisel einer Zukunft, die wir uns nicht vorstellen konnten. So musste also das Alter sein. Aber Mutter und Vater liefen schreiend aus dem Haus und wälzten sich im Schnee, weil ihre Haut brannte, als hätte man Säure darauf gegossen. Mutter kochte nicht die Rezepte ihrer Mutter. Sie fragte stets mich, ihren Jüngsten, was sie kochen solle. Ich hatte aber die Worte gehört, die Großmutter im Schlaf gemurmelt hatte, wenn sie sich von einer Seite auf die andere geworfen hatte; wenn die Fräsgeräusche vom Fenster her in meinem Ohr gesirrt hatten. Und dann stand ich in der Küche und sagte, mach doch Rouladen mit Kraut und Püree. Und ich sagte ihr, was sie in die Rouladen einwickeln sollte und wie sie das Kraut kochen sollte. Und ich sah mich in der Küche stehen, wie ich Großvater im Schützengraben stehen sah. Und ich schaute Mutter ins Gesicht, wie ich gerne denen ins Gesicht geschaut hätte, denen man die Jesusstatue ins Bett gelegt hatte. Ich wollte einen Moment des Wiedererkennens erhaschen. In meiner Fantasie war ich dann Großvaters Hund, der die Fremden gebissen hatte. Und ich wusste, mich wirst du nicht erschießen. Denn die Kriege waren schließlich vorbei. Als ich geboren wurde, begann das Farbfernsehen.


Die Kost der Nadelspitzen 20 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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