Dienstag, 16. Februar 2010

26

Jan war anders als ich. Er war sehr dünn, nahezu mager. Großmutter nannte ihn abgemagert. Er aß kaum etwas. Er trank so gut wie nichts. Er trug seine Haare gescheitelt. Sein Hemd oder T-Shirt steckten immer in der Hose. Mit Jan konnte man nicht lachen. Ich sah ihn nie weinen. Vater nannte ihn mal eine gefühllose Bohnenstange. Jan spottete gern. Er machte andere gerne verächtlich, auch wenn ich nicht sagen kann, dass er sie verachtete. Jan wollte hoch hinaus. Er wollte mit vielen nichts zu tun haben. Unter anderem wollte er mit mir nicht viel zu tun haben. Er spottete über mich. Er machte mich lächerlich, wo er konnte. Er benutzte nie meinen richtigen Namen. Er nannte mich einen Angsthasen. Einen Jammerlappen. Er machte Witze darüber, dass ich mit fünf immer noch am Daumen lutschte. Frau Kommissarin, als ich mit zehn immer noch nicht auf dieses Vergnügen verzichten wollte, hatte er längst alle Hoffnung aufgegeben. Jan kam auch mit Astrid nicht zurecht. Ihrem Hunger und ihrer Derbheit. Jan achtete sehr auf Ordnung. In seinem Teil unseres Zimmers war alles stets an seinem Platz. Ich glaube, wenn Jahn träumte - und es sah oft so aus, als ob er träumte -, dann plante er vielmehr. Er erstellte Pläne. Mutter warf ihm mehrmals vor, er sei abwesend. Wenn ich mal wie Jan sein will, würde ich sagen, sie wollte die Abwesenheit als ihr Terrain verteidigen; als etwas, das ihr alleine und einzig zustand. Würde ich von heute aus sagen. Heute kann ich auch sarkastisch und zynisch sein. Damals kannte ich nur Wut, Verzweiflung und Lust, d.h. Schreien, Schweigen und In-den-Mund-stecken-wollen. Vater sagte überzwerch. Mutter sagte wüst. Astrid sagte wild. Jan sagte dumm. Von Jan sagte Vater, dass er vergrübelt sei. Mutter sagte saft- und kraftlos. Astrid sagte langweilig. Ich sagte brav. Von Astrid sagte Mutter, dass sie böse sei. Vater sagte verlottert. Jan sagte dumm. Ich sagte, geil. Ok, Frau Kommissarin, Sie wollen auch wissen, was wir über unsere Eltern sagten. Wir durften doch nichts sagen. Wir dachten es uns und verbargen das Gedachte vor uns selbst. Ich versuche mich zu erinnern: Ich denke, dass wir keine Worte dachten. Ich dachte keine Worte, denke ich. Ich denke, dass ich über Mutter dachte: ihr Schuften und Schuften ist wie die Schaufel eines Baggers, der sich immer tiefer in die Erde bohrt, um endlich Ruhe vor dem Schuften zu haben und um irgendwo auf einer unterirdischen Wiese in der Sonne liegen zu können, wie ich Mutter ganz selten vor unserem Haus in der Sonne liegen sah, als gäbe es das Haus nicht und als gäbe es uns alle nicht. Ich denke, dass Jan dachte: Mutter ist ein Fächer, der unglücklicherweise und irrtümlich als Zahlenrad an einen Glücksspielautomaten geklebt wurde. Solche Räder versprechen in ihrem permanenten Drehen Glück, erhöhen jedoch nur die Sucht, sie zu drehen und sich etwas versprechen zu lassen. Ich denke, dass Astrid dachte: Wenn du alt bist, zeige ich dir, wie man Kinder richtig füttert. Und über Vater: Ich denke, dass ich dachte: er ist ein Baum mit schweren Ästen, die mich, wenn ich nicht vorsichtig bin, erschlagen. Ich denke, dass Jan dachte: Er ist ein Sumpf, der alles dreckig macht und in Unordnung bringt, weil er überallhin vordringen will. Ich denke, dass Astrid dachte: Er ist die vier Wände, die einem bei allem, was man tut, anschauen und die einen zu zerquetschen drohen, bewegt man sich, die einen aber auch vor allen Gefahren draußen in der Welt beschützen. Alles klar, Frau Kommissarin? Haben Sie sich nun Ihr Bild gemacht? Es wäre mir lieber, Sie fänden Fakten. Etwas Konkretes. Liefern Sie mir etwas Handfestes und ich schneide es auf, untersuche es, schlussfolgere und Sie bekommen einen glasklaren Bericht. Wie, was ich denke, was unsere Eltern über uns dachten? Ich weiß, was sie sagten, und das habe ich Ihnen schon vorgelegt. Woher soll ich wissen, was sie dachten? Kann ich in ihre Köpfe kucken? Was lachen Sie, Frau Kommissarin? Wie, jetzt wüssten Sie, warum ich Anatom geworden sei? Ich sagte Ihnen bereits, ich hatte lediglich das Wort Astronom mit dem Wort Anatom verwechselt. Wie ich so oft die Dinge verwechsle. Vor allem jetzt, da sich meine Erinnerung auflöst. Da sich die vielen Fälle, die wir zusammen gelöst haben, vermischen. Jeder einzelne Fall war, wie Sie sich erinnern können, äußerst unglaubhaft. Im Durcheinandergeraten werden sie plausibel. Die Kraft, alle Fälle mit dem Skalpell auseinander zu schneiden, habe ich nicht mehr. Aber Sie kennen ja die Fälle. Eliminieren Sie einfach, was nicht hierher gehört. Wer könnte das besser als Sie.


Die Kost der Nadelspitzen 26 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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