Dienstag, 16. Februar 2010

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Frau Kommissarin, die Gewalt, die ich in mir trage, die ich phantasiere und die ich sage, ist nicht die meine. Sie kam mir zu. In ihr wuchs ich auf. Gegen sie verwehre ich mich, indem ich sie in mich aufnehme und sie sich in mir entwickeln lasse wie eine Frau ihr Kind. Frau Kommissarin, es ist diese Gewalt, die mich leugnen ließ, ein Junge zu sein; die mich leugnen lässt, ein Mann zu sein. Mein Vater sagte, ich sei der verlorene Sohn. Frau Kommissarin, ich habe mein Sohnsein verloren. Damals. Die Gewalt hat mir mein Sohnsein verprügelt und davon gejagt. Ich jagte hinterher. So ein verlorener Sohn war ich. Ich stand im Flur und hörte, wie Vater Jan verprügelte. Wie er ihn sich vorbeugen hieß; wie er ihm die Hose runter zog und wie er ihm mit einem Gürtel den Hintern blutig schlug. Und ich stand im Flur und schwieg. Oder ich stand in der Küche und schwieg und dachte nur, wie gut dass ich es nicht bin, der die Vase aus Versehen vom Sims geschmissen hat; der einen kurzen Bruchteil von einer Sekunde unachtsam war und an dieser beschissenen, billigen Vase hängen blieb, die nur da stand, damit auf diesem Sims überhaupt etwas stand. Die Leere wäre nicht zu ertragen gewesen. An dieser Leere wäre meine Mutter erstickt. In dieser Leere hätte mein Vater seine eigene Fratze erblicken müssen. Deshalb stand diese Vase da. Deshalb wurde Jan geschlagen. Es ging nicht um die Vase. Es ging um die Fratze und es ging um die Leere. Die Leere im Leben unserer Eltern. Um ihre Schuld. Frau Kommissarin, es ging um ihre Schuld. Deshalb sind wir hier. Frau Kommissarin, ich versuche nicht den Verdacht von uns abzulenken. Frau Kommissarin, machte ich mich schuldig, als Vater Jan am Kragen packte, nachdem er unachtsam einen Kratzer in den Lack von Vaters Auto gemacht hatte, und ihn in den Keller zerrte und ihm da mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, dass er zu Boden stürzte; machte ich mich da schuldig, weil ich das ganze beobachtete? Weil ich zuschaute, heimlich zuschaute, erregt, wie er meinem Bruder das Hemd auszog und mit einem Stock auf seinen Rücken schlug. Wie ihm der Schweiß im Gesicht stand, meinem Vater, und wie Jan nicht mehr schrie, wie er keine Miene mehr verzog, wie er sich nach vorne beugte und die Schläge ertrug, als schlügen sie nicht ihn. Ich spürte die Schläge auf meinem eigenen Rücken wie eine Erregung, wie eine Lust. Ich war eifersüchtig auf meinen Bruder, Frau Kommissarin. In Gedanken war ich eifersüchtig. In meiner Phantasie war ich eifersüchtig, Frau Kommissarin. Als mein Vater mich wirklich schlug, war ich nicht befriedigt, da lernte ich die Scham kennen und die Wut, aber auch die Erregung, ihm meine Verachtung in die Visage schreien zu können; meine Verachtung darüber, dass er mich schlug und meine Verachtung darüber, dass er so oft Jan geschlagen hatte und nicht mich. Dass er mich verschmäht hatte. Dass ich ihm gleichgültig war. Dass ich ihn bis aufs Blut, wie ich meinte, provozieren musste, damit er endlich auch auf mich aufmerksam wurde. Dass ich Mutter provozieren musste, damit sie aus ihrer Versunkenheit erwachte. Mutter nahm Jan nicht in Schutz. Mutter nahm mich nicht in Schutz. Schlug Vater uns, schien sie ungestört zu sein. Als befriedigte er ihre geheimsten Wünsche. Als wären seine Schläge ihre eigenen Schlägen gegen die Frucht ihres Leibes. Gegen ihre Sündhaftigkeit. Gegen dieses Fremde, das in ihr angewachsen war. Gegen dieses Stück Vater oder Ehemann, das in ihr aufgequollen war wie Nahrung, die Leibschmerzen verursacht. Nach den Schlägen konnten wir nicht zu Mutter rennen und uns von ihr in den Arm nehmen lassen, sie träufelte nicht den Balsam ihrer Liebe in unsere Wunden. Unsere Wunden waren ihr vielmehr ein Graus; eine Konkurrenz; eine Anklage gegen ihre eigene Verletztheit. Wir stahlen ihr die Show. Ich lernte zu schweigen. Ich lernte, mich zu verlieren, Frau Kommissarin. Ich verlor mich damals an ein Land der puren Gewalt. Jeden Abend in meinem Bett starrte ich regungslos an die Decke und rannte in Gedanken durch ein Land der verstümmelten Körper, die bedingungslos zur Verfügung standen. Ich war Herr dieser Körper unter Palmen und in der Sonne, die auf meiner Haut brannte wie die Wärme der Heufeuer auf der Dorfwiese, in die Mutter Kartoffeln gelegt hatte. Ich hing in meinen Gedanken an diesen Verstümmelungen wie die Wesen der Wiese an ihren Nadelspitzen. In der totalen Verfügbarkeit der Körper erahnte ich eine Zuneigung, wie ich sie erahnte, wenn Mutter die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holte und sie uns in die Hände gab und wir sie von einer Hand in die andere warfen, um uns nicht zu verbrennen. Die Brandblasen, die wir dennoch stets bekamen, waren die Zeichen, die Beweise ihrer Zuneigung. Einer Zuneigung des Lebens selbst. In diesen Momenten gab es weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Es gab keine Erinnerung an erhaltene oder verweigerte Schläge noch ein Phantasieren über ein anderes Land und ein anderes Leben, das erst, wie ich glaubte, eins sei. Frau Kommissarin, um mich herum in meiner Kindheit war der Tod. Alles war eine Leiche, auf der ich spielte. In die ich meine Fingerchen vergrub. Frau Kommissarin, ich war schon immer Anatom. Ich habe nie etwas anderes kennen gelernt. Mit meinen Spielzeugmesserchen und Spielzeugspritzen schnitt und spritze ich in die Kindheit, in der ich lebte. Aus diesem Tod heraus verlor ich mich. Aus diesem Tod ließ ich mich heraus fallen. Jede Bewegung, jedes Zucken, aber auch jedes Innehalten und Verharren waren Versuche, dem Tod zu entkommen. Hinter der Leere, die Jans Missgeschick erzeugt hatte, blickte mich die Möglichkeit des Lebens an. Frau Kommissarin, ich erinnere mich nicht mehr gut, aber ich weiß dennoch, dass ich als junger Mann hinter diese Leere ging, wenn ich in Schenken stand und mich betrank. Ich trat ein in die Leere und suchte den Ausgang. In diesem bizarren Zwischenreich war ich offensichtlich nicht allein. Andere standen da mit der Leere in ihren Augen. In ihrem Blick musste einst auch eine Vase gestanden sein und jemand hatte sie kaputt gemacht und wurde dafür seinerseits geschlagen und zerstört. Die Zerstörung tropfte ihnen als Angstschweiß von der Stirn, wenn sie lallten und torkelten und von einem anderen Leben sprachen und von all den Dingen, die sie gerne machen möchten und die sie machen werden, wenn sich endlich die Gelegenheit dazu ergeben würde, wenn dieses Leben sie nicht mehr am Leben hintern würde. Und Frau Kommissarin, ich lag bei den Nutten und roch ihr Parfüm. Auch sie verloren sich tagtäglich in ihr Hurenleben hinein, um dem Tod des so genannten normalen Lebens zu entkommen. Vor ihnen hatte ich Respekt, in ihrer Gegenwart senkte ich den Kopf und wagte es nur, mit verhaltener Stimme zu sprechen, wenn ich ihnen sagte, was sie mir antun sollten. Ich hatte inzwischen herausgefunden, dass die Liebkosungen der Nutten stärker auf der Haut brannten als die wenigen Schläge, die Vater mir gegönnt hatte. Wenn sie mir ihre Finger in den Arsch steckten oder meinen Schwanz in den Mund nahmen, glaubte ich, ich würde endlich vom Leben aufgespießt wie ein kandierter Apfel auf dem Jahrmarkt oder sie würden mir diesen Körperteil endlich abnehmen, dessen Sehnen ich für die pure Todessehnsucht hielt. Frau Kommissarin, ich verlor mich an den Hunger der Nutten nach Vergeltung und badete mich in der Wärme ihre Urins als wäre er die Seele meiner Mutter. In der Hitze der Vergärung und der Verwandlung von Abfall in neues Leben wollte ich gefunden sein wie die goldene Nadel im Heuhaufen. Hier rührte ich mich und zuckte mit dem Finger und blinzelte mit dem Auge als Zeichen meines Willens, gefunden zu werden. Ich wühlte im Abfall nach Nahrung. Ich sorgte dafür, dass ich alles Geld gut verprasst hatte, damit nichts als Abfall um mich sei und also seine Vergärung und seine Transformation in pure Energie. Ich steckte in diesem Haufen wie die Kartoffeln im Heuhaufen. Mutter, siehe, du warst es, die mich in diesen Komposthaufen aus toten Überresten, in denen das Leben neu begann, gelegt hatte. Du hattest mich in deiner Schürze getragen und mich in die Glut gelegt, damit ich gar würde und damit sich alle an mir delektieren konnten. Mutter, war das der Sinn, den du meinem Leben gegeben hast? Frau Kommissarin, hier im Komposthaufen der Leere spürte ich einen fatalen Sinn des Immer und Immer-Wieder. Hier schien es kein Ende zu geben. Hier schien alles Abgestorbene und Getötete wieder aufzuleben. Hier war alles Opfer, nur man selbst nicht. Es war wie zu Hause. Es war wie bei Vatern und Muttern, die sich aufopferten für ihre Kinder. Vater, der sich mit jedem Schlag, den er Jan oder mir verabreichte, aufopferte. Mutter, die sich mit ihrem Bemühen, dass wir endlich Ruhe geben, unendlich aufopferte für uns. Frau Kommissarin, mit meiner verlorenen Sohnhaftigkeit taumelte ich durch die Leere der Ausdünstungen der Trinker und Huren. In meiner Verlorenheit torkelte ich gegen die Mülltonnen der Versprechungen eines berauschten, blühenden Lebens und wünschte mir, ich gehörte zu den Ratten und Kakerlaken, denen Einsamkeit fremd ist. Ich hätte nichts Lieber als meine Menschlichkeit eingetauscht, wäre nichts lieber als Ratte oder Kakerlake geworden, wenn ich dadurch endlich die Einsamkeit verloren hätte. Die Einsamkeit dessen, der unbeachtet dabei steht, wenn den anderen die Zerstörungskraft des Lebens mit voller Wucht trifft; wenn der andere von der Allgewalt der väterlichen Stärke zerrissen wird, um dann vom väterlichen Hunger auf Jugend, die ihm im Sohn sichtbar abhanden kam, verschlungen zu werden. Im Schlagen des Sohnes erfüllte Vater seine ehelichen Pflichten, wie sie ihm von Mutter aufgegeben worden waren. Indem er mich missachtete, missachtete er seine ehelichen Pflichten. Er war es, der die mütterliche Kälte mir gegenüber erzeugte. Im Provozieren ihrer Glut kam er wieder seinen Pflichten nach und schlug mich und sperrte mich in den Keller, so dass dieser Keller endlich einen Sinn hatte und ich den meinen, nämlich in diesem Keller zu sein. Das war eine Aufgabe. Vater, der durch die Kellertür schrie, ich sei wahrlich der verlorene Sohn, wird mir nicht verzeihen müssen, wenn ich aus meiner Verlorenheit zurückkehre. Vater, ich werde dir, wenn ich zurück komme, keine Mühe mehr machen. Du wirst nicht aus deiner Haut heraus müssen und du wirst nicht die sportive Leistung des Über-den-eigenen-Schatten-Springens abgefordert bekommen. Du wirst ebenso nackt dastehen wie ich, der ich noch nach den Nutten riechen werde wie du nach den Kindern, denen du das Leben aus dem Leib prügeln wolltest oder aus denen du die Jugend pressen wolltest, wenn du dich auf sie legtest, damit dieses Leben und diese Jugend die deinen werden und du ewig leben würdest. Aber Vater, ich werde dann größer sein als du und ich werde dich stumm betrachten, wie du in die Knie gehst. Ich werde dastehen, wie ich dastand, als du Jan die Seele aus dem Leib schlugst, damit Mutter ihre Ruhe habe. Ich werde dastehen, wie ich dastand, als du Mutter anschriest, sie solle ihr dummes Maul halten, damit sie endlich ihre Ruhe habe. Und Mutter, du wirst nicht aus deinem Bett aufstehen müssen, in dem du angeblich nicht schlafen kannst, um mich willkommen zu heißen, denn ich werde nicht bleiben. Ich werde euch nur sagen, dass ich jetzt weiß, was ihr getan habt und warum ihr es getan habt. Frau Kommissarin, ich werde ihnen ihre Leichenhaftigkeit erklären, so wie es einem guten Anatom ansteht. Und ich werde ihnen die Leiche meiner Kindheit zeigen. Und dann werde ich auch schon wieder verschwunden sein. Denn in mir lebt etwas, Frau Kommissarin, das leben will. Das noch immer Leben will, auch wenn es so viel von diesem Leben vergisst. Auch wenn es alt geworden ist. In mir lebt, auch wenn die Kindheit tot ist, das Kind, das sich inmitten der Dorfwiese und zwischen den brennenden Heuhaufen und den Leuten mit den geschärften Sensen geschworen hatte, dass es leben will. Das neben dem Nachbarmädchen lag und ihm sagte, dass es leben will. Und das Nachbarskind sagte das gleiche. Frau Kommissarin, in all der Einsamkeit meines Lebens gab es doch diesen einen Moment, in dem ich ich selbst sein konnte, weil das Mädchen es selbst war. Wir wollten nicht ewig nebeneinander liegen. Als es hieß, die Kartoffeln sind im Feuer und man werde sie für uns, wenn sie gar sind, wieder aus der Glut holen, sprangen wir beide auf und liefen wie zwei Engel aus Fleisch und Blut über die Wiese auf die Feuer zu. Ohne diesen Moment wäre es mir nicht möglich gewesen, mich zu verlieren. Ohne diesen Moment hätte ich mich nicht finden können, um endlich Abschied zu nehmen von denen, die uns nur ihr eigenes Nicht-Leben ersparen wollten, das sie uns permanent zeigten. Frau Kommissarin, zwicken sie mich in den Arm, damit ich weiß, dass ich nicht mehr im Flur stehe und schweigend phantasiere, während Jan im Esszimmer keinen Laut von sich gibt und im Haus nur Vaters Schläge und Mutters Stöhnen zu hören sind.


Die Kost der Nadelspitzen 53 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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