Dienstag, 16. Februar 2010

12

Eines Sonntags sagte Jan, komm. Er hatte seine Rollschuhe, Diskoteile in blaugelb, in der einen Hand und einen olivgrünen Militärrucksack in der anderen. Lass uns mit dem Rad zur Autobahn radeln und dort Rollschuh laufen. Die Autobahn war 10 km entfernt. Vater fuhr darauf stets mit vollem Tempo auf die Ausfahrt zu u. bremste erst im letzten Moment ab. Du spinnst, sagte ich zu Jan. Er lachte. Hast du nicht aus dem Fenster geschaut. Hatte ich. Na und. Sagte ich. Es fährt kein Auto. Das ist doch normal in dieser Straße. Er lachte. Was hatte er bloß. So war er sonst nie. Nichtsdestoweniger packte auch ich meine Rollschuhe, ebenfalls im Diskostil blaugelb, ein und wir radelten los. Mit Mutter waren wir eine Zeitlang sonntags ins nächstgelegene Freibad geradelt. Das hatte was von einer Safari gehabt u. wie von einem Ausflug in eine andere Welt. Sie lächelte, als kenne sie die Welt. Dabei wurden ihre äußere Welt in Wirklichkeit immer kleiner u. ihre innere immer größer – wie auch der Berg der Pillen, den sie täglich schluckte. Gegen die Angst. Sagte sie. Tatsächlich hatte ich bei diesen Ausflügen das Gefühl, in eine Vergangenheit zu radeln, nicht an einen anderen Ort. Tatsächlich. Es fuhren keine Autos. Die Straßen waren leer. Das machte mir Angst. Jan strahlte über das ganze Gesicht. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Wir radelten durch den Wald. Es war Sonntagswetter. Weder Sonnenschein noch richtig düster. So zwischendrin. An solchen Sonntagen lief ich normalerweise sinnlos im Haus umher. Von meinem Zimmer ins Wohnzimmer. Schaute einige Minuten einen Schwarzweißfilm im Fernsehen an, Don Camillo oder Theo Lingen, ging dann ins Bad, saß auf der Kloschüssel rum, ging in der Garten u. betrachtete meine Uhr u. zählte die Sekunden des Sekundenzeigers mit u. probierte nach einer Weile, wie weit ich sie schon wieder aufziehen kann. Die Uhr war die alte von Vater. Golden mit dünnen Zeigern, die im Dunkeln leichten sollten, es aber nicht taten. Nur ein altes Paar spazierte im Wald und grüßte gepresst. Wir erreichten die Landstraße. Einige Kinder spielten hier Fußball und schrieen. Die Schreie klangen ohne das vertraute Autogeräusch sehr seltsam. Es fehlte etwas. Es verhallte. Nicht so wie in einer verschneiten Nacht, eher metallen. Blechern. Mit harten Kanten, wie in einer Halle, der das Dach fehlte. Wir fuhren weiter. Den Zubringer entlang, die enge Kurve hinauf u. wir standen tatsächlich mitten auf der Autobahn. Nach beiden Seiten Leere. Als habe jemand die Straße abgelegt und vergessen. Gespenstisch. Ich hatte Angst. Jan lehnte sein Rad gegen die Leitplanke in der Mitte. Ich trat vorsichtig auf, als ginge ich auf dünnem Eis. Hab dich nicht so, schrie Jan. Ich stellte mein Rad hinter das seine und zog mit flauem Gefühl im Magen meine Schuhe aus und meine Rollschuhe an. Ich hörte ein Schreien. Ein Freund von Jan kam auf Rollschuhen auf der Überholspur den Hügel herab gerollt. Der Freund drehte sich und bremste gekonnt mit seinen Stoppern. Der Freund gab mir einen Klaps auf die Schulter. Na Kleiner! Ich antwortete nicht. Die beiden sausten los u. ich mühte mich ab, ihnen zu folgen. Ich schaute nur auf die Leitplanke u. hielt mich strikt parallel. Als ich aufschaute, waren die beiden verschwunden. Ich wollte weinen, aber es ging nicht. Ich fuhr zurück. Meine Knöchel taten mir weh. Ich wartete bei den Rädern. Zwei Stunden später kamen die beiden zurück. Klasse, was? Sagte Jan. Ich sagte nichts. Wir radelten zurück. Die beiden vorne, ich dahinter. Was ist mit dem, fragte der Freund. Das weiß nie jemand so genau, antwortete Jan. Mir tat der Bauch weh. In der Nachte träumte mir von einem Menschenstrom, der sich durch eine Kanalröhre ergoss. Am Ende dieser Röhre brauste ein heftiger Wasserfall, eine Wand aus fallendem Wasser, undurchsichtig, monströs, verlockend. Da sollten alle hindurch. Dahinter sei die Rettung. Ich wurde im Traum auf die andere Seite geführt. Ich war nicht Teil des Stromes. Ich sah die Maschinerie. Hier drehten sich stählerne Rotoren und zerhäckselten die, die durch den Wasserfall schritten und in die Rotoren fielen, sie lösten sie quasi in Nichts auf. Nicht wieder erkennbar. Komplette Auflösung. Ich sah die Scheren stillstehen. Obwohl der Menschenstrom nicht abgerissen hatte. Aber auch der war wie eingefroren. Die Wände der Kanalisation glänzten wie die Haut von in Öl gemalten Fischen.


Die Kost der Nadelspitzen 12 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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