Dienstag, 16. Februar 2010

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Alles hat sich verändert. Jetzt da ich alt bin und meine Erinnerung dem Schnee am Ende des Winters vergleichbar ist. Hier und da findet man noch weiße Flecken oder gar weiße Felder vor. Dort haben Kinder einen Schneemann gebaut und es wird noch Wochen dauern, bis er weggeschmolzen ist. Am Straßenrand haben die Stadtarbeiter den Schnee von den Straßen und Plätzen aufgeschüttet. Erfahrungsgemäß lag hier noch im Frühling ein schmutziges Etwas, das erst dann, wenn man es anfasste, seine Identität als Schnee preisgab. Wanderer formen aus den Schneeresten Schneebälle und werfen sie einander über oder versuchen Schilder zu treffen. Die Kinder interessiert inzwischen das Schmelzwasser mehr, sie bauen kleine Kanäle und Seen und probieren die neusten Spielzeugbagger und ferngesteuerten Lastwagen mit den großen Vollgummirädern aus. Und doch erinnere ich mich an unser Dorf. Ich schaue keine Bilder an. Habe nicht die Broschüren des Heimatvereins zur Hand. Ich sah nicht die Bilder der zerstörten Häuser nach dem Krieg. Ich weiß nicht einmal, ob unser Haus noch steht. Ich weiß nicht einmal, ob es exakt da stand, wo ich meine, dass es gestanden haben muss. Mitunter bin ich mir nicht sicher, ob es überhaupt das richtige Haus war. Haben wir nicht ganz anders gewohnt? Waren wir nicht ganz andere? Habe ich das alles nur aus dem Fernsehen? Aus dem Kino? In einem Buch gelesen? Manchmal sitze ich da und versuche Erinnerungen zu sortieren, zu vergleichen und zu verifizieren. Aber dann verwirrt sich wieder alles und ich gleite auf einer Spur hinab in die Landschaften meines Gedächtnisses und tauche irgendwo wieder auf und bin dann wirklich nicht sicher, ob ich nicht eingenickt war und geträumt habe. Und doch sehe ich die Bilder vor mir, sehe die Wiese hinter unserem Haus vor mir. Darauf standen Kirschbäume. Wenn die Kirschbäume blühten, wurde Rosa zu meiner Lieblingsfarbe. Am liebsten hätte ich die Kirschbaumblütenblätter genommen und an alle Bäume und Wiesen und Häuser geklebt. Jan lachte mich dafür aus. Und Astrid traf sich mit ihren ersten Freunden unter diesen Bäumen. Vater sagte, schade um die vielen Früchte, die wieder verfaulen werden. Mutter sagte, wir sollen, wenn die Früchte reif sind, nicht von ihnen essen. Auf den Früchten laste ein Fluch. Auf genauere Nachfragen gab sie keine Antwort. Auch Großmutter nicht. Überhaupt war es sehr schwierig, Informationen von den Damen zu bekommen. Die Bäume und die Wiesen gehörten zu einem großen Grundstück, zu dem auch ein Wald gehörte. Vor dem Wald stand ein Haus, in dem seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte. Großmutter raunte mal etwas und Mutter flüsterte Astrid etwas zu und Jan filtert das wichtigste daraus heraus und sagte mir knapp: Das muss Ende der Fünfziger gewesen sein. Oder während des Krieges. Da sei was Schlimmes passiert. Jetzt war ich so schlau als wie zuvor. Mutter hatte uns verboten, in dem Wald zu spielen. Das Grundstück war durch keinen Zaun versperrt. Also spielte ich am liebsten in dem Wald. Wenn ich von der Grundschule kam, aß ich etwas, erledigte die Hausaufgaben und sagte, ich geh auf die Straße spielen. Mutter sagte, bleib aber bitte hier auf den Nebenstraßen. Schnurstracks schlich ich mich in den Wald. Streifte umher. Sammelte Tannenzapfen. Oder betastete das Harz an den Baumstämmen. Ich bekam es nicht mehr von den Fingern ab. Es roch komisch. Ich wusste nicht, ob ich mich davor ekeln sollte oder ob ich mir die Arme und das Gesicht damit einschmieren und mich auf den Boden legen sollte, damit die Blätter und Nadeln an mir kleben blieben, so dass ich mich endlich in einen Baum verwandeln würde. In der Schule erfuhr ich von anderen Kindern, die es von ihren Eltern gehört hatten, aber mit einer vorgehaltenen Hand und mit einer wegwischenden Hand, in dem Haus habe eine Familie namens Ofenschmidt gelebt. Die Ofenschmidts hätten viele Kinder gehabt, vier Mädchen und fünf Buben. Der Großvater habe mit im Haus gewohnt. Die Ofenschmidts seien wichtige Leute gewesen. Leute, zu denen unsereiner nicht gehen würde. Da würden andere verkehren. Haben die Kinder gesagt, bzw. hatten die Eltern den Kindern gesagt, die es mir gesagt haben. Jan sagte, er habe gehört, dass da was wirklich Schlimmes geschehen sei. Mit Tod und Verbrechen und so. Jan war sehr verschlossen. Ich hatte mit ihm nicht viele brüderliche Momente. In meinen Augen war er fantasielos. So dünn und gerade wie er war. Aber das Haus ließ auch ihn nicht los. Wir schlichen uns zusammen mal in den Garten. Wir sahen nicht viel, die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Der Rasen stand kindshoch und zwischen den Steinen des Hofes drückten sich die ersten kleinen Bäumchen durch. Eines Nachts, als Großmutter zu Besuch war, traute ich mich und fragte sie nach den Ofenschmidts. Großmutter hatte viele Gläser Schnaps getrunken und dann konnte es geschehen, dass sie vergaß, dass ich ein Kind war, und sie sprach zu mir wie zu einem Erwachsenen. Ja, sie habe die Ofenschmidts gekannt. Vor dem Krieg sei die kleine Ofenschmidt, die damals noch anders hieß, wie habe ich vergessen, Großmutter wusste es, also die kleine Ofenschmidt sei oft zu ihr gekommen. Großmutter habe sie auf dem Fahrrad mitgenommen. Als Großmutter mit Mama schwanger gewesen sei, habe sie die kleine Ofenschmidt, die damals, ich sagte bereits, dass ich nicht weiß wie, tut mir Leid Frau Kommissarin, anders hieß, nicht mehr auf dem Fahrrad mitnehmen können. Denn die kleine Ofenschmidt sei doch ein aufgewecktes Mädchen gewesen, so meine Großmutter, und die habe doch immer nach allem gefragt. Und die hätte doch bestimmt auch nach Großmutters dicker werdendem Bauch gefragt. Und was hätte sie denn dann sagen sollen, es war doch vor dem Krieg und die Zeiten waren ganz andere, nicht so liederliche wie heute, wo es jeder mit jedem treibe, so meine Großmutter, die, wenn ich mich nicht irre, an diesem Abend mehr als eine Flasche Schnaps getrunken hatte. Ich wusste damals selbst noch nicht, was das war: schwanger. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Soviel hatte ich schon kapiert, dass es etwas mit den Babys zu tun hatte. Aber was und wie, ich weiß nicht mehr, was ich da wusste, aber ich glaube, es war doch eher meinen anderen Fantasien gleich, z.B. dem Fantasieland, in dem ich mich jeden Abend vor dem Einschlafen hineinträumte, wo man nicht aus Gläsern sondern aus abgeschnittenen und ausgehöhlten Füßen trank und wo alle barfuss laufen mussten und wo immer die Sonne schien und die Wege besonders sandig waren, weil sich das unter den nackten Füßen anfühlte, als wären Schokolade, Pudding und Marzipan eins. Ich ließ mir also gegenüber Großmutter nichts anmerken. Großmutter sagte, die kleine Ofenschmidt habe einen sehr strengen Großvater gehabt. Der habe Gildenstern geheißen. Sollte die kleine Ofenschmidt dann nicht auch so geheißen haben? Vermutlich schon. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Wie jetzt nicht wichtig ist, warum ich gerade den Harzduft in der Nase habe u. mich frage, ob ich mich je mit dem Baumharz eingeschmiert habe, ob ich mich nackig ausgezogen habe als Kind und mich am Baumstamm gerieben habe wie eine Katze und mich dann auf den Boden gelegt habe; und ob ich dann nicht irgendwann mir die Kleider drüber angezogen habe und es habe sich so ganz schrecklich u. doch auch irgendwie gut angefühlt und ob ich mich nach Hause geschlichen habe, mir habe ein Bad einlaufen lassen und mich gebadet habe und die Kleider zu den schmutzigen Sachen geschmissen habe. Egal, jedenfalls sagte Großmutter, dass man dem Großvater der kleinen Ofenschmidt, dem Großvater Gildenstern, dem habe man nichts erzählen dürfen, was irgendwie mit dem Körper zu tun gehabt habe, dann sei der fuchsteufelwild geworden, sei in den Wald gerannt, habe sich einen Ast gesucht, der als Gerte dienen konnte, und dann habe er seine Kinder und eben auch die Enkel über einen Schemel gelegt, ihnen die Hose runtergezogen und auf den Popo geschlagen, bis das Blut die Beine herunter gelaufen sei. Vater hat Jan und Astrid auch noch oft übers Knie gelegt. Aber er schlug nicht, bis es blutete. Zumindest erinnere ich mich nicht an Blut. Ich sehe nur fahles Fleisch wie tot so weiß. Außerdem schlug Vater mit der Hand. Einmal wollte er auch mich schlagen, aber ich entwischte ihm und sperrte mich im Keller ein, bis er sich beruhigt hatte und mich Großmutter, die gerade zufällig zu Besuch war, heimlich ins Bett führte. Hätte Großmuter, so reime ich mir das heute zusammen, der kleinen Ofenschmidt gesagt, sie, also Großmutter, sei schwanger, dann wäre die doch nach Hause gelaufen und hätte gefragt, was das ist, schwanger sein, und dann wäre doch der Großvater Gildenstern wütend geworden und hätte der kleinen Ofenschmidt den Popo verschlagen mit einem Stock aus dem Wald. Wäre sie dann nicht zu einer tollwütigen Hündin geworden u. hätte den Großvater Gildenstern gebissen, dass es selbst ganz blutig geworden wäre, aus seinen Augen hätte das Blut gespritzt wie aus den beiden Fontänen des Brunnens im Wald nahe der Autobahn. An den erinnere ich mich genau. Da fände ich heute noch hin. Ein andermal erzählte Großmutter, die kleine Ofenschmidt wäre dann die beste Freundin von Mama gewesen. Aber Mutter erzählte nie von der kleinen Ofenschmidt. Ich habe sie mal gefragt, aber da kam nichts, weniger als nichts. Das wäre vorbei u. man solle alte Geschichten ruhen lassen, sagte Mutter einmal. Vater schwieg sowieso oder erzählte andere Geschichten vom Krieg. In der Schule erzählte man sich, die Frau Ofenschmidt habe alle neun, oder waren es doch nur sieben, tot gemacht. Und dann hätten sie sich selbst tot gemacht. Ob der Großvater Gildenstern da noch lebte, weiß ich nicht, aber ich stelle mir vor, er habe sie alle mit dem Stock tot geschlagen und sich dann, so habe ich es einmal im Fernsehen gesehen, im Wald erhängt. Wenn ich mich mal wieder heimlich in den Wald geschlichen hatte, schaute ich die Bäume ganz intensiv an und prüfte, ob man sich an ihnen erhängen könne. Ich hatte Astrid gefragt, ob es stimme, was man sich an der Schule erzähle, dass die Ofenschmidts sich selbst tot gemacht hätten. Astrid sagte nur knapp, ja, das stimme wohl und dann schaute sie so komisch traurig, wie das nur Teenager können, wie ich heute glaube, mich erinnern zu können. Aber warum. Warum nur? Astrid wurde nun böse und sagte, das sei nichts für kleine Kinder. Aber es wäre irgendwas Schmutziges gewesen. Was Schmutziges, dachte ich damals. Ja haben sich die Ofenschmidt, fragte ich mich damals, auch mit Harz eingerieben und sich nackig auf dem Waldboden rumgewälzt? Haben die es wirklich getan, so wie ich glaube, dass ich es wahrscheinlich getan hatte. Wurden sie etwa von ihrem Großvater erwischt? Ich hätte nicht gewusst, was ich gemacht hätte, wenn mich Vater nackt im Wald erwischt hätte. Ich hatte ihn mal nackt erwischt. Er hatte, grand malheur, vergessen, die Klotür abzusperren. Ich machte sie wie in Gedanken auf u. er stand vor mit erigiertem Glied. Wirklich wahr, Frau Kommissarin. Kein Wort. Nur Stillstand. Wie tiefgefroren. Keine Ahnung, wie ich aus diesem Bild heraus gekommen bin. Einmal war eine Nachbarstochter mit mir im Wald dabei, wir waren vielleicht beide fünf Jahre alt. Es war sehr heiß. Wir machten beide Pipi. Danach habe ich mit der nie mehr gespielt. Da ging ich dann wieder alleine in den Wald. Alleine konnte ich schneller abhauen, wenn Vater kam, oder falls ich den Geist des alten Gildenstern an einem Ast hätte hängen sehen sollen. In meiner Kindheit umstanden mich die Geheimnisse, wie die Bäume dieses alten hängenden Manns mich umstanden, wenn ich mich verirrt hatte. Als Kind dachte ich, ich bin verwunschen. Und wenn ich nur weit genug laufe im Wald, trete ich durch ein Tor und alles wird anders sein.


Die Kost der Nadelspitzen 14 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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