Dienstag, 16. Februar 2010

29

In der Erinnerung sehe ich Jan wie einen Traum, aus dem man nicht erwacht. In dem man aber träumt, man sei wach, es sei dunkel und vor dem Fenster brenne ein seltsames Licht. Einmal nahm er mich mit zu seinem Freund. Die hatten ein viel größeres Haus als wir. Es gab viele Türen und hinter den Türen war immer eine weitere Treppe, die noch weiter nach oben führte. Das Haus schien ein einziger Dachboden zu sein. Über jedem Dachboden war noch einer. Er und sein Freund waren irgendwann hinter so einer Tür verschwunden. Ich wartete. Dann ging ich die Treppe hinauf und kam in ein weiteres Zimmer. In dem Zimmer standen alte Kisten. Alles war staubig und voller Spinnweben. Ich ekelte mich vor Spinnweben. Da war dann noch eine Tür. Dahinter eine Treppe. Eng und schmal. Eine Kindertreppe. Ich wartete. Ich schrie nach den beiden. Ich ging die Treppe hinauf. Aber es kam keine Tür mehr. Nur eine Wand. Ich musste zurück. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich schaute nicht mehr, ich öffnete Türen und lief Treppen hinab. Immer wieder nur eine weitere Tür. Und keine Geräusche. Und Spinnweben. Und meine Angst. Bis mich die Schwester von Jans Freund fand. Sie nahm mich mit in ihr Zimmer. Ich fragte, wo Jan sei. Draußen im Garten. Ich schaute aus dem Fenster. Unten im Garten sah ich die beiden. Die Schwester sagte, es gebe jetzt Essen. Ob ich auch Hunger hätte. Ich hatte keinen Hunger. Aber ich ging mit ihr. Ich setzte mich an den fremden Tisch. Jan und sein Freund kamen. Sie lachten und stürzten sich auf das Essen. Mich würgte an jedem Bissen. Aber ich aß meinen Teller leer. Dann gingen wir nach Hause. Ich lief hinter Jan her. Ich wollte nicht neben ihm laufen. Ich wollte nicht, dass er mich sah. Er sagte nichts. Zu hause schlich ich mich auf unseren Dachboden. Hier kannte ich mich aus. Hier stand ein alter Spiegel aus drei Teilen. Wenn man die Flügel nach vorne bog, konnte man sich von der Seite sehen. Ich bog die Flügel nach vorne und sah mich von der Seite. Mit einem bisschen Glück konnte man sogar seinen Hinterkopf sehen. Auf dem Dachboden stand ein altes Bett. Darauf lag eine glanzfarbene Decke. Ich legte mich auf die Decke. Sie klebte an meinen Beinen. Ich zog meine Strümpfe aus. Die Decke pappte an meinen Fußsohlen. Dann entdeckte ich an meinem Bein etwas Seltsames. Am Schienbein war ein roter Fleck. Eine kleine rosafarbene Vertiefung. Wie eine Wunde. Aber da war kein Blut darin. Eher so was wie Wasser. Dieser Fleck machte mir Angst. Vielleicht hatte ich mich irgendwo gestoßen. Vielleicht war ich auch krank. Ich zog schnell meine Strümpfe wieder an. Kniestrümpfe. Ich wollte diesen Fleck nicht sehen. In mir war es, als würde etwas weinen. Ich weinte nicht. Ich ging runter zu Mutter in der Küche. Auf dem Kühlschrank stand eine Kanne mit Pfefferminztee mit Zitrone und Zucker. Mutter schenkte mir ein Glas ein. Mutter fragte, ob ich etwas habe. Ich sagte nein. Ich sagte, alles ist gut und versuchte zu lachen. Mutter sagte, du hast es gut.

Eine festgehaltene Erinnerung ist ein Affront gegen die Zeit. Allerdings nur wenn man sich je in seinem Leben die Zeit für etwas genommen hat. Die meisten Menschen vertreiben sich mit ihrem Leben die Zeit. Ihre Erinnerungen sind deshalb ohne jede zeitliche Relevanz. Sie sind nur ein weiterer Zeitvertreib. Ein irrelevanter Umgang mit ihrem Leben. Wie Däumchendrehen im Wartezimmer.


Die Kost der Nadelspitzen 29 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen