Dienstag, 16. Februar 2010

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LA NOURRICE: Où as-tu mal?

ANTIGONE : Nulle part, nounou. Mais fais-mois tout de même bien chaud comme lorsque j’étais malade … Nounou plus forte que la fièvre, nounou plus forte que le cauchemar, plus forte que l’ombre de l’armoire qui ricane et se transforme d’heure en heure sur le mur, plus forte que les mille insectes du silence qui rongent quelque chose, quelque part dans la nuit, plus forte que la nuit elle-même avec son hululement de folle qu’on n’entend pas ; nounou plus forte que la mort. Donne-moi ta main comme lorsque tu restais à côté de mon lit.

Jean Anouilh. Antigone


Ich rauche. Du solltest nicht rauchen! Warum? Weil es ungesund ist! Das Leben ist an sich ungesund. Einmal, da gab es Wesen, die waren gesund und glücklich, doch dann kam eine Krankheit, eine Art Krebs, über sie und sie waren fortan gezwungen, sich zu lösen, sich zu lieben und zu sterben. Wem eines davon oder gar alle drei misslangen, erfuhr, was es heißt, in diesem allgemeinen Unglück unglücklich zu sein.

Als Kind und lange danach habe ich mich als Glückskind gesehen. Auf die Frage, um wie viel Uhr ich denn geboren sei, hatte meine Mutter, die wie üblich mit Pillen zugedröhnt war, ausweichend geantwortet, sie wisse es nicht genau, aber es sei irgendwann am späten Nachmittag oder frühen Abend gewesen. Also beschloss ich, dass es halb sieben gewesen war. Um diese Zeit hatten früher die Vorabendserien angefangen. Ich dachte, das ist genau der richtige Zeitpunkt für ein Glückskind. Pünktlich zu Beginn der Vorabendserie, zu Beginn des richtigen Lebens, wie ich lange glaubte, das schien mir ein glücklicher Moment eines Lebensanfangs zu sein. Außerdem konnte ich so die immer wiederkehrenden Fragen der Astrologiewütigen nach meiner Geburtsstunde beantworten. Sie nervten nicht mehr, gaben mir aber ellenlange Auszüge aus Horoskopen, in denen genau stand, wer ich war, wer ich bin und wer ich sein werde. Da ich lange entscheidungsfreudig gewesen war, entschied ich, dass das, was darin stand, dasjenige ist, was auf mein Leben zutrifft. Ich war fortan nicht mehr gezwungen, darüber nachzudenken, und hatte somit hinreichende Antworten auf die lästige Frage, wer ich denn sei. Diese Frage war mir folglich früher nie ein Problem gewesen. Wer soll ich denn schon sein. Ich bin ich. Ich bin der, der ich bin. So einfach war das. Und ich bin hier. Und ihr nicht. Also, da eure Fragen jetzt hinlänglich beantwortet sind, kommt endlich her. Ihr wisst ja jetzt, wer ich bin. Und klingen, sagt, die Antworten nicht interessant. Oder muss ich euch erst erschaffen? So sprach ich mit mir selbst u. stellte mir vor, ich sei ein anderer. Und weil das so oft gelang, das Erschaffen und das Ein-anderer-sein, empfand ich mich als noch glücklicher u. sah meine Kindheit im Zeichen des reinsten Glücks. Es war ja alles da gewesen. Es waren ja alle da gewesen.


Die Kost der Nadelspitzen 1 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Eine der frühsten Erinnerungen ist Müdigkeit. Erschöpfung. Wie nach einer großen Anstrengung. Einem großen Gezappel oder Gezeter. Allerdings kann ich mich an die nicht erinnern. Nur an ein Liegen. Auf dem Bauch. Auf dem Fußboden. Ich schrie nicht. Die Augen gingen von einem Augenwinkel zu einem anderen. Kann das ein Baby? Ich weiß es nicht. Weiß ein Baby, was Müdigkeit ist? Auch das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass ich, wenn ich heute diese Müdigkeit spüre, sie kenne. Sie ganz genau kenne. Es erinnert mich an die Insekten, die wir als Kinder gefangen genommen haben und die entfliehen wollten. Irgendwann kämpften sie nicht mehr. Irgendwann sitzen sie nur noch still in dem Marmeladenglas. Doch rüttelst du ein bisschen am Glas, donnern sie wie verrückt mit dem Kopf gegen die Glaswand. Schlagen mit den Flügeln um ihr Leben und verbrauchen es so, wie ein Auto seinen letzten Tropfen Sprit verbraucht. In diesen Zuständen ist es mir noch zu schwer, die Asche meiner Zigarette abzuschlagen. Sie fällt auf den Boden und stiebt auseinander. Ein Meditationsbild. Innere Leere. Erleuchtung.


Die Kost der Nadelspitzen 2 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Ich bin alt nun. Sehr alt. Und die Erinnerungen Vögel. Ich bin der Taubenhans und stehe auf dem Rathausplatz und streue Körner und Brotkrümel um mich aus. Die Tauben und Spatzen fliegen herbei und picken die Körner und die Krümel. Die Tauben laufen ihren merkwürdigen Gang. Der Kopf geht nach hinten und nach vorne u. ich spüre den Schmerz im Nacken. Tauben oder Spatzen setzen sich auf meine Hand oder auf meinen Unterarm oder auf meine Schulter oder meinen Kopf u. krallen ihre Füße in meine Haut. Das tut nicht weh. Es ist ein bisschen mehr als ein Kitzel. So sind die Erinnerungen. Wir wohnten in einem Haus. Oder in einem Schloss oder in einem alten Pavillon. Mit Wald und Wiesen drumherum. Oder waren es Haine? War da ein See? Oder ein Fischteich in unserem Garten? Ich glaube, hinterm Haus standen Bohnenstangen Spalier u. mein Bruder Jan und meine Schwester Astrid liefen lachend darunter hindurch. Meine Mutter freute das nicht und Vater war zum Glück in der Arbeit. Hatte ich diese Geschwister? Hatte ich Vater und Mutter? Die Vögel bleiben nie lange sitzen. Sie krallen ihre Füße nicht tief in die Haut. Manchmal verweilen sie ein bisschen, da sie fett wurden von den Körnern und Krümeln. Sie können nicht mehr gut fliegen. Sie sind unförmig geworden. Unbehände. Schwerfällig. Würde ich sie erschrecken, bekämen sie einen Herzinfarkt. Sie rühren sich kaum. Und es ist auch schon ein Vogel auf den Boden gefallen und liegen geblieben. Ein Sack mit Gefieder außen dran. Ein Wunder, dass er keinen Spatz erschlug. Oder einen Wurm.


Die Kost der Nadelspitzen 3 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Einmal hatte ich einen Traum. Es schien die Sonne und alles war unglaublich schön. Und Schönheit ging durch mich hindurch und Schönheit strahlte ich aus und alle schauten mich verliebt an und lächelten mir zu. Dann erwachte ich. Der Wecker hatte geklingelt. Ich sollte zur Schule. Ich ging in die zweite Klasse. Ich hatte ins Bett geschissen. Meine Mutter sagte kein Wort. Mutter sagte nicht Johann zum Vater und Vater sagte nicht Thea zur Mutter und sie schüttelten nicht den Kopf. Sie wusch mich, den Kopf auf dem Dachboden und die Füße im Keller, und schickte mich zur Schule. Jan u. Astrid hatten schon früh am Morgen das Haus verlassen. Und abends legte Vater die Zeitung nicht aus der Hand. Mutter musste ihm das Abendbrot unter der Zeitung durchschieben. Alles blieb ruhig. Niemand sagte ein Wort, außer das ist meine Scheibe Wurst, gib sie her.

Wir hatten keinen Herrgottswinkel mehr, auch wenn in den Schlafzimmern der Eltern neben den Türen an der Wand kleine Holztafeln mit kleinen Wasserbecken in Muschelform oder in der Form zweier zu einer Schale geformten Händen hingen. Darin war Weihwasser. Und als Kinder mussten wir auf einen Stuhl steigen und die Finger damit benetzen und das Kreuz schlagen, wenn wir die Schlafzimmer betraten. Zu gern hätte ich Vater damit nass gespritzt. Aber owehoweh, das ging nicht. Einmal sah ich, wie Astrid in das Muschelbecken spuckte. Das war Vaters. Wir hatten also keinen Herrgottswinkel. Aber im Wohnzimmer im Eck stand ein Tischchen. Und auf dem Tischchen standen in einer weißen Vase frische Blumen. Und neben der Vase stand ein Bilderrahmen. Und der Bilderrahmen war leer. Es sollte an den Onkel erinnern, der im Krieg gefallen war. Der einzige Bruder meines Vaters. Die Legende ging, sie hätten sich vor dem Krieg wegen etwas gestritten. Wir erfuhren nie, worüber der Streit gegangen war. Mutter sagte nichts. Aber sie putzte den Bilderrahmen. Und stellte die frischen Blumen hin. Sie verriet uns zumindest, dass der Onkel „Der schöne Josef“ genannt wurde. Und dass er also sehr schön gewesen war. Als er noch gelebt hatte. Als niemand daran gedacht hatte, dass er bald fallen werde. U. dass deswegen niemand ein Bild von ihm gemacht habe. Die Kinderbilder, die wenigen, die es gab, seien im Krieg verloren gegangen. So stand in unserem Wohnzimmer ein Tischchen mit einem leeren Rahmen und mit frischen Blumen. Wir Kinder haben dieses Eck das „Der-schöne-Josef-Eck“ genannt. Einmal hatte ich den Bilderrahmen geöffnet, um nachzusehen, ob da wirklich kein Bild drin ist. Aber es war keins drin. Nur ein weißes Stück Passepartout, das einen Fleck von meinen schmutzigen Fingern bekam. Aber ich glaube, Mutter hat diesen Fleck nie bemerkt. Auch hat mich mein Vater aus Zorn nicht in einen verkrüppelten Baum verwandelt oder in den Felsen, auf dem die alten Weiber in den Filmen die nassen Kleider ausschlagen.


Die Kost der Nadelspitzen 4 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Essen klebte stets am Hexenhaus. Hatte ich die Verstecke gefunden u. die Plätzchen und Schokolade in den Mund gesteckt, ließ die Hexe nicht lange auf sich warten. Das Haus im Wald war kein Idyll. Das Haus der Süße lud auf fatale Weise ein zu bleiben. Meine Eltern karrten mich ins Krankenhaus, der Hexenhauszentrale, in der nur noch vereinzelt in den Zimmern Plätzchen und Schokolade lagen. Die gehörten aber den alten Leuten. Vater, oder war es Mutter, vermutete, ich hätte Zucker. Später drohe, laut meiner Mutter, oder war es Vater, der Infarkt oder zumindest dieser seltsame Hexenname Diabetes. Im Sommer flog die Hexe Diabetes über den Pudding mit den Erdbeeren. Im Dezember krächzte sie ihren Hohn zwischen der Marzipan- und der Lebkuchenschicht der Dominosteine des heiligen Niklaus hervor. Mutter und Vater schauten streng und gewichtig u. wären sie ein Comic gewesen, hätten in ihren Sprechblasen dicke Fragezeichen, Ausrufezeichen, Totenköpfe und Insekten gestanden. Mutter, die ihr Leben lang kränkelte, sagte immer, Gesundheit ist das wichtigste. Mein Vater, der nie, wie er stolz behauptete, krank gewesen war, bis er dann doch am Krebs starb, sagte dazu nichts. Aber ich würde heute sagen, für ihn war Krankheit Sünde. Deshalb schaute er mich böse an, wenn ich krank war. Oder hielt ihn das nur vom Zeitungslesen ab? Oder hätte er einmal zugeben müssen, dass Mutter besser Bescheid wusste. Aber was sage ich da? Ich hatte als Kind weder Zucker noch Diabetes. Aber immer Angst vor dem Krankenhaus. Nie vor dem Hexenhaus. Denn Märchen erzählte Vater, oder war es Mutter, nicht. Die seien zu grausam u. nichts für Kinder. Oder reime ich mir die Erklärung dazu? Jetzt in meinem hohen Alter. Sei es, wie es gewesen sei. Jedenfalls erzählte Mutter, oder war es Vater, keine Märchen. Aber sie fuhren mich ins Krankenhaus. Das weiß ich sicher.


Die Kost der Nadelspitzen 5 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Ein Vogel krallt sich an meinem Adamsapfel fest und flattert vor meinem Gesicht herum und schlägt mir seine Flügel ins Gesicht und pickt mit seinem Schnabel in mein Kinn. Wenn er könnte, ich weiß es, würde er mir die Augen ausstechen und wie einen in sich vekringelten Wurm herunterschlucken. Der Vogel beruhigt sich und kommt mit seinem hornigen Mund so nah als möglich an mein linkes Ohr heran, meine Kehle weiterhin fest mit seinen Krallen fassend. Er hat eine leise, piepsige Stimme, wie Vögel sie haben, doch spricht er mit klaren Worten. Ich verstehe ihn zuerst nicht gut, kann nur einzelne Wörter heraushören, Wörter wie krank und Krankenhaus und Glasscheibe und viele Monate. Weil ich ungläubig schaue, flattert der Vogel wieder und schlägt mir seine Flügel um die Ohren und schafft es, mir in die Lippen zu picken und Hautfetzen daraus heraus zu reißen. Blut läuft mir übers Kinn und der Vogel tränkt putzig sein Köpfchen darin. Dann erzählt er von neuem, dass ich als Baby im Krankenhaus gewesen sei und dass niemand gekommen sei. Meine Mutter, so der Vogel, habe zu Hause auf dem Sofa gesessen und habe geglaubt, dass dieses Thema somit endlich erledigt sei; dass dieses Thema, so zwitschert der Vogel lieblich, ich gewesen sei. Ich stelle mir Krankenschwestern vor, die mir zärtlich über den Kopf und über die Wangen streichen, doch der Vogel sagt, mein Kopf habe in einer Apparatur gesteckt und meine Lungen hätten gequietscht, als habe der Apparatur Öl gefehlt, und ich sei so, wie er und ich nun Tête-à-Tête seien, mit dem Tod Tête-à-Tête gewesen. Ich habe völlig still dagelegen und man habe nur das Rasseln meiner Lungen gehört und habe nur die metallenen Stangen des Apparates gesehen und Mutter habe zu Hause gesessen und habe geschwiegen und habe gehofft, dass damit endlich alles vorbei sei und wie nie gewesen. Ich glaubte dem Vogel nicht. Ich glaubte nicht einmal an den Vogel. Diese Erinnerung muss ein schlechter Traum gewesen sein. Vor Gericht nicht brauchbar, dachte ich. Einer Kommissarin gegenüber nur dummes Geschwätz.


Die Kost der Nadelspitzen 6 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Vater sagte, früher habe er nichts sagen dürfen, heute dürfe er wieder nichts sagen, als Kind habe er keine Stimme gehabt und jetzt habe er auch keine Stimme. Wollte er dennoch was sagen, geriet ihm seine Stimme zum Schrei. Er schrie. Uns an.

Vater sagte, du bringst die Mutter ins Grab.

Vater sagte, der Bub weiß alles schon.

Vater sagte, alle sind dem Führer nachgelaufen. Alle würden ihm wieder nachlaufen.

Vater sagte, man muss einen Kampfsport erlernen. Man muss sich zu verteidigen wisse.

Vater sagte, erlerne einen Kampfsport.

Vater sagte, geh zum Militär und strebe nach einem hohen Rang, damit du im nächsten Krieg nicht als kleiner Soldat verheizt wirst.

Vater sagte, hoppe hoppe Reiter, wenn er plumpst dann schreit er.

Bei Festen sehr spät nahm mich Vater an der Hand und ging mit mir spazieren. In der Dunkelheit waren die Straßen schön und ruhig. Hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht.

Was Vater bei diesen Spaziergängen sagte, habe ich vergessen.

Heute, da ich alt bin, lebt Vater nicht mehr.

Vater bekam beim Essen das fettige Fleisch. Seine Lippen glänzten.

Vater aß das trockene Brot, während ich das erste Stück vom frischen bekam.

Vater aß die Marmelade mit dem Löffel zu seinem Butterbrot.

Wie Vaters Vater und wie seine Mutter hießen, verriet er mir nie.

Und von seinem Bruder, dem schönen Josef, sprach er ebenfalls nie.

Vater erzählte vom Krieg, als sei der eine Fundgrube von Anekdoten über den Aberwitz der Welt und ein Pfuhl größenwahnsinniger Kapriolen gewesen.

Vater sprach nie von Liebe.

Vater küsste nicht.

Vater konnte nicht Rad fahren, trotzdem lehrte er es mich.

Vater konnte nicht schwimmen, aber er fuhr mich ins Schwimmbad.

Er sagte, wer schwimmen kann, leidet nur zwei Stunden länger, wenn das Schiff untergeht.

Vater schlug Holz im Wald. Ein Taschentuch mit vier Knoten auf dem Kopf.

Als Jan Vaters Auto zerkratzte, bekam er von Vater eine Tracht Prügel.

Als Astrid ihm auf den Fuß trat, schrie er sie an.

Wüsste ich etwas darüber, würde ich sagen, Vater und Mutter wurden zwangsverheiratet und taten das Beste, sich nicht zu nah zu kommen, nicht zu oft ihre Wut darüber aneinander auszulassen. Die Wände unseres Hauses dämpften oft die Wut, so dass ich sie nicht hören konnte, insbesondere wenn Vater mich in den Keller gesperrt hatte.

Der Welt schenkten Vater und Mutter drei Kinder, damit die Welt sie in Ruhe lasse.

Vater sagte, als der Arzt sagte, sie werde sterben, wenn sie noch einmal schwanger wird, der Herrgott gibt und der Herrgott nimmt. Das war bevor Mutter mit mir schwanger war.

Mutter wurde mit mir schwanger u. hoffte, dass sich damit das Thema erledigt habe. Diesmal waren sie und ich das Thema.

Vater hoffte auch, dass sich das Thema erledigen würde. Das Thema waren nun Mutter und ihr Wissen über seine Schuld.

In diesen Hoffnungen hatten sie Liebe miteinander gemacht und mich gezeugt.

Vater hatte, wenn er mit Fremden sprach, eine andere Stimme. Als Astrid ihm auf den Fuß getreten war, dachte er zuerst, sie sei eine andere und er zeigte sich von einer charmanten Seite, wie wir sie an ihm nicht kannten. Als er dann aber erkannt hatte, dass seine Tochter diesen Fehltritt begangen hatte, ahndete er ihn in seiner gewohnten Art. Überhaupt war er es gewesen, der ihr auf den Fuß getreten war.

Vater war Astrid schon einmal zu nahe gekommen. Aber das durfte und wollte niemand wissen. Alle hofften, dass sich das Thema erledigen würde. Das Thema waren wir und die Nähe.

Vater war der fremde Mann, mit dem man eigentlich nicht gehen sollte. Dessen Schokolade man nicht annehmen sollte.

Die Erinnerungen an Vater verlöschen. Ein anderer Vater entsteht. Einer, der wie im Märchen durch dunkle Wälder läuft und glaubt, das Pochen seines Herzens verfolge ihn und wolle ihn erschlagen. Unser Haus war ein Haus des Glaubens.


Die Kost der Nadelspitzen 7 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Als Kind war ich schon Anatom. Ich schnitt dem Teddy die Haare ab, weil ich glaubte, dass sie nachwüchsen. Ich spritzte dem Kaktus Seifenlauge unter die Stacheln, nur um zu sehen, was passieren würde. Die Haare wuchsen nicht nach. Der Kaktus veränderte irgendwann seine Farbe. Zu dem Zeitpunkt hatte er aber schon monatelang ohne Wasser auskommen müssen und Nächte im Frost überstehen. Jan und Astrid hatten anderes zu tun. Ich beobachtete sie. Aber sie wollten mich nicht im Zimmer haben. Das war schlecht für meine Liebe, so wie ich sie sah. Über Liebe sprachen Mutter und Vater nicht. Hatte ich sie einander lieben sehen? Wenn in Wut außer sich geraten Liebe ist, dann habe ich sie sich lieben hören. Ich wollte aber sehen. Genau sehen. Die Liebe sehen. Die Liebe sehen wurde für mich zur Liebe. Was war das nur? Liebe wurde für mich zur Anatomie. Die Welt war ein Körper, den ich erforschen wollte. Ich wollte die Welt lieben. Doch zumeist ließ die mich allein. Deshalb lernte ich wenig über die Liebe und die Welt. Was ich in Erfahrung bringen konnte, vergesse ich jetzt. Sie erhält wieder einen Märchenkörper. Sie wird wieder zu einem Kaktus, der sich ins violette verfärbt. Zu einem Teddy, dem die Haare nicht nachwachsen wollen.

Mutter sagte, als Kind hätte ich so schön geredet. Später sagte sie, ich würde nie etwas erzählen. Noch später, bei mir dürfe man nichts sagen. An mehr kann ich mich momentan nicht erinnern.

Ich sezierte und fand die Ordnung. Doch wie der Anatom sich weigert, die Seele in eine dieser Metallschalen zu legen und sie der Kommissarin zu zeigen und ihr seine Fragen zu beantworten, so kann die Ordnung nicht offen gelegt werden. Alles, was dadurch geordnet wurde, würde verschwinden. Die Seele würde der Kommissarin letzte Frage beantworten und sie verlöre ihren Job. Sie wäre von nun an überflüssig. Und der Anatom müsste selbst zum Mörder werden, um seiner Berufung weiterhin frönen zu können. Deshalb wurde und werde ich die Kommissarin nie mehr los, die je und je fragte und fragt: Was ist da geschehen. Fragte und fragt es mich zu meinem Glück. Dadurch bleibe ich in Kontakt mit der Liebe.


Die Kost der Nadelspitzen 8 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Frau Kommissarin, kommen Sie mit auf unseren Dachboden. Sie fragen, wo denn überhaupt unser Haus zu finden sei. Was spielt das denn für eine Rolle, wenn ich Ihnen die Möglichkeit gewähre, unseren Dachboden zu sehen. Der sollte für Ihre Ermittlungen wesentlich aufschlussreicher sein. Der Ort unseres Hauses ist papperlapapp. Es steht in einer Straße. Unweit davon ist ein Wald. Nicht viel weiter weg ein See. Irgendwo sind Wiesen. Andere Straßen. Eher ländlich würde ich sage. Eher dörflich vermute ich mal. Eher nicht in südlichen Gefilden. Aber auch an Seeluft kann ich mich nicht erinnern. Genügen Ihnen diese Auskünfte. Sind sie zufrieden jetzt. Was quengeln Sie, wenn ich Ihnen ein Angebot großer Intimität mache. Steigen Sie schon die Stufen empor. Öffnen Sie die Falltür. Ich bin zu schwach dazu. Ich bin einerseits Kind, noch nicht lange geboren, andererseits alt und vielfältig gebrechlich. Beeilen Sie sich, sonst vergesse ich, wer Sie sind. Jetzt drücken Sie doch das Türchen auf. Sie sind doch eine kräftige, eine starke Frau. Bei Ihnen zu Hause lebt sicher ein patenter Mann, der sich rührend um Ihre gesunden Kinder kümmert. Der sie an seine haarige, männliche Brust drückt u. der abends, wenn Sie nach Hause kommen, einen eleganten Anzug für Sie trägt, damit Sie mit ihren mörderfangenden Händen zwischen seine muskulösen Beine greifen können. Oder sind Sie etwa eine dieser Fernsehkommissarinnen, dem Trunk verfallen, einsam, in einer schmuddeligen Bude, nur noch von der Schminke zusammen gehalten. Wie, was soll das heißen, ich müsste es wissen. Frau Kommissarin, ich bin nur der Anatom, der Empiriker in der Geschichte, das Trüffelschwein, der Spürhund, wenn Sie so wollen. Und wollen Sie nun sehen, was ich entdeckt habe, oder wollen Sie nicht. Ich kann Ihnen äußerst interessantes Bildmaterial zeigen. Sie werden Augen machen, was Sie da sehen und erkennen können. Es wird endlich die ersehnte Spur sein. Lagen Sie mir nicht ganzen Tag in den Ohren mit Ihrer ersehnten Spur. Jetzt stemmen Sie sich mal richtig gegen diese Tür. Ich verspreche Ihnen auch eine kleine Erregung, Sie sind ja auch nur eine Frau. Jetzt lösen Sie sich doch nicht in Luft auf, Frau Kommissarin. Ich weiß doch, dass es Sie gibt. Sie haben doch immer schon ermittelt, ich erinnere mich ganz deutlich. Sie waren mir doch immer schon an den Fersen geklebt. Sie haben doch immer schon auch ein kritisches Auge auf mich geworfen. Sie wurden mir im Laufe der Jahre vertraut. Als Kind spielte ich mit Ihnen. Waren Sie nicht mal ein Teddybär oder ein Kaktus. Habe ich Ihnen nicht mal die Haare geschnitten. Hatten Sie nicht mal eine Befragung in unserem Keller durchgeführt. Ich erinnere mich, dass Sie an die Tür meines Waldhauses geklopft haben, also an das Brett, das die Tür symbolisierte, zu mehr reichte es nicht, da Vater sein Werkzeug nicht verlieh, bzw. ich zu faul war, es mitzuschleppen. Sie zeigten mir doch Ihren Ausweis. Jetzt treten Sie doch beim Gehen nicht so leise auf, als würde ich nicht hören, wie Sie die Treppe hinunter eilen. Ich hätte Ihnen ganz aparte Bildchen zeigen können. Sie sind in Pappkartons unter Illustrierten versteckt. Ganz kompromittierende Bildchen. Ich habe es immer gewusst. Endlich wäre Ihre Mühe, Ihr ewiges mir an den Fersen kleben, belohnt worden. Wo rennen Sie denn hin. Sie kennen den Weg doch gar nicht. Sie wissen doch gar nicht, wo unser Haus steht. Und so was will Kriminale sein, eine Logikerin des Aufspürens, die verläuft sich ja noch auf einer Treppe mit zwei Stufen. Die weiß doch nicht, wo es auf, wo es ab geht. Ihren Namen habe ich doch jetzt glatt vergessen. Ich liege als Kind auf dem Teppich im Flur und getraue mich nicht zu weinen. Die Türen sind alle geschlossen und ich habe in Gedanken die Frau Kommissarin zu Hilfe gerufen.


Die Kost der Nadelspitzen 9 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Vater fährt Auto. Mutter schreit: Johann. Vater schreit: Thea. Ich sitze auf dem Rücksitz. Wo Jan und Astrid sind, weiß ich nicht mehr. Vater fährt eine enge Allee entlang. Die Bäume sind groß und alt. Platanen. Wie überdimensionale Lutscher. 50-mal mich übereinander. Die Blätter wie Hände. Scharf und spitz. Ich sehe mich meine Platanenblatthand in den Bauch einer Katze rammen. Daraus spritzt der Himbeersirup, den Vater selbst machte. Vater sieht die Landschaft nicht. Er sieht Vergangenheit. Erzählt von vor 20 oder 30 oder 50 Jahren. Von vor dem Krieg, von während des Krieges, von nach dem Krieg. Mutter träumt. Sie sieht die Landschaft nicht. Nicht die Wiesen, über die ich mich radeln sehe. Die Platanenblatthände fest an der Lenkstange. Die nackten Füße schleifen durchs grüne, nasse Gras. Tropfen fallen von den Zehen herab. Mutter schreit wieder: Johann. Vater schreit noch einmal: Thea. Aus den Bäumen fliegen Krähen auf. Die Allee ist sehr eng. In der Erinnerung ist es, als sei mir damals gewesen, wie führen durch ein fremdes Land. Mutter fragt, was sie morgen zu essen machen soll. Vater sagt, dass die Platanen gefährlich seien. Autos seien dagegen gefahren und die Menschen in den Autos verbrannt. Mutter sagt, sie wolle nicht schon wieder Nudeln und Gulasch machen. Ich schlecke in Gedanken an meinen Platanenblattfingerzacken und aus meinem Mund tropft Himbeerzungensirup. Siehst du Vater, auch ich kann Sirup machen. Siehst du Mutter, mach doch etwas mit meinem Himbeerzungensirup. Das Kind auf der Wiese ist verschwunden. Jetzt steht da eine Kuh und rupft Gras mit ihrer Zunge aus dem Boden. Oder war es ein pissendes Pferd. Oder doch nur eine Krähe. Oder bin ich auf dem Rücksitz eingeschlafen. Diese Sonntagsausflüge hielten nicht lange an. Zuhause hatte ich dann wieder kleine, weiche Knubbelfinger, die wehtaten, wenn ich draufbiss. Unten in der Küche schnarchte Vater. Mutter seufzte. Namenlos. Ich versuchte mir die Bäume ins Gedächtnis zurück zu rufen. Oder mich an den Geschmack des Himbeersirups zu erinnern. Oder herauszufinden, ob die Katze geschrieen hat und ob nicht doch diese kleine Döschen mit den bunten Bonbonpillen aus ihrem Bauch gekullert waren, als ich meine Platanenblatthand hineingestoßen hatte. Waren es überhaupt Platanen? Aber wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich manchmal anstelle meiner Augen Platanenkugelfrüchte hinter meiner Brille. Grün und stachelig und hervorgetreten, als hätte das Spiegelbild die Basedow’sche Krankheit. Ich habe wirklich vieles, aber die habe ich nun nicht. Glauben Sie mir bitte.


Die Kost der Nadelspitzen 10 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Das Leben meiner Mutter war klar strukturiert. Und wir Kinder hatten sie tunlichst und bei bestem Gewissen nicht dabei zu stören. Sie übertrug uns keine Aufgaben. Die Aufgaben waren ihr Ressort. Worüber hätte sie sich sonst beklagen können. Was hätte sie ihrem Mann entgegen halten können. Wie hätte sie sich sonst als jemand fühlen können. Sie stand morgens um 6 Uhr auf. Machte Jan und Astrid Frühstück. Denn die mussten in die Schule. Ich war noch zu jung. Jan und ich schliefen in einem Zimmer. Astrid hatte eins für sich allein. Mutter kämmte Jan die Haare, schimpfte Astrid wegen zu liederlicher Kleidung und dann waren sie auch schon weg. Durchs Fenster drang allmählich die Sonne ein. Vater verließ das Haus und ging seiner Arbeit nach. Mutter machte keine Pause. Sie machte Gymnastik. Eine halbe Stunde. Dann wusch sie Wäsche. Sie lief treppauf und treppab und schaute, dass ich ihr dabei nicht im Weg lag. Ich baute mit Klötzchen Landschaften und Städte. Ich gab kleinen Autos Namen u. ließ sie miteinander konkurrieren oder romantische Freundschaften schließen. Zu gern wäre ich in eins dieser Autos eingestiegen u. in der von mir erbauten Landschaft verschwunden. Wäre zu gern durch die Wälder gefahren, vorne am Wagen Messer, die Breschen ins Gebüsch schlugen und Wege durch die Dunkelheit bahnten. Oder mit einem Bus mit imaginären Freunden. Wie in den Zeichentrickfilmen im Fernsehen würde sich hinter uns der Wald wieder schließen. In den Filmen gab es die Lokomotive, die ihre Geleise selbst verlegte. Zwischendrin setzte sich Mutter ans Fenster, sah den vorbeifahrenden Autos zu und rauchte eine Zigarette. Der Rauch roch gut und wenn es nach Rauch roch, konnte ich mich getrost meinen Träumen überlassen, Urwälder durchqueren, von denen ich die Namen nicht wusste. Ich kannte nichts von der Welt. Ich war froh, dass ich die einzelnen Zimmer im Haus benennen konnte und dass ich wusste, wo mein Platz war. Das war nicht immer sehr einfach, schließlich durfte ich nicht gänzlich verschwinden, aber auch nicht im Weg sein. Mutter trug Hauskleidung und hatte, wie ich meinte, kräftige Hände. Um 11 Uhr begannen die Vorbereitungen für das Mittagessen. Gegessen wurde, wenn Jan und Astrid aus der Schule zurückkamen. Samstag, Sonntag Punkt 13 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt und über Jahre hinaus. Kam einer zu spät, gab es einen Anschiss. Und wehe Mutter hatte nicht die rechte Menge Essen zubereitet. Dann hatten wir nämlich falsche Angaben über die Größe unseres Hungers gemacht. Es durfte nicht zu wenig sein und es durfte nichts übrig bleiben. War uns anzusehen, dass wir nicht satt waren, oder blieb etwas auf dem Tisch stehen, waren das Indizien – aufgepasst, Frau Kommissarin – dafür, dass wir gelogen hatten. Dass wir nicht die Wahrheit über uns gesagt hatten. Dass wir Geheimnisse vor unserer Mutter hatten, und das mochte unser Vater gar nicht gern. Waren wir nicht satt, zeigte das, dass wir untauglich fürs Leben waren. War etwas übrig geblieben, bewies das unsere Verschwendungssucht, unsere Ungehörigkeit und Verkommenheit. Frau Kommissarin, hier werden Sie noch genauere Fragen stellen müssen. Aber nicht jetzt. Weiter im Ablauf. Nachdem das Geschirr geputzt und verräumt worden war, natürlich alleinseligmachend von unserer Mutter, wurde die Küche gewischt, das Esszimmer gesaugt und, da man gerade dabei war, das ganze Haus. Wir standen an die Wände gedrückt oder in der Ecke oder flüchteten von Zimmer zu Zimmer, um dem Sauger nicht im Weg zu sein. Hätten wir ein Haus in Griechenland gehabt, so ein flaches, hätten wir uns aufs Dach geflüchtet. Aber ich bin mir ziemlich sicher, Mutter hätte auch noch dieses Dach gewischt u. dann wäre uns nichts anderes übrig geblieben, als vom Dach zu springen. Vater hätte dann wahrscheinlich den Kopf geschüttelt und gemurmelt, ich hab’s ja immer gesagt, zu dumm für dieses Leben. Danach schaltete Mutter das Bügeleisen an und schichtete im Esszimmer Wäscheberge auf: Hemden, Hosen, T-Shirts, Unterhemden, Unterhosen, Strümpfe, Handtücher, Sacktücher, Waschlappen und Putzlumpen. Die wurden alle gebügelt und fein säuberlich gefaltet. Das war genug Material, um über den Nachmittag zu kommen. Normalerweise war Mutter bei diesen Verrichtungen stumm. Ich erinnere mich an wenige Ausnahmen. Mag sein, dass ich die anderen vergessen habe, oder dass ich mir die Ausnahmen einbilde. So wie ich der felsenfesten Meinung bin, dass meine Mutter immer nur ein Alter gehabt habe. Egal ob mein sich auflösendes Gedächtnis 20 Jahre zurück oder 20 Jahre vor springt, sie sah immer gleich aus. Wobei ich ja nicht so sehr springen will, sonst schimpft die Frau Kommissarin, schilt mich, ich würde abschweifen und das sei den Ermittlungen nicht dienlich, ich solle meine Einschnitte akkurat begrenzen auf die Zeit, da ich ein kleines Kind gewesen sei. Zumindest für diese Ermittlungen hier. Ja, Frau Kommissarin, wenn Sie sich aber auch nur sporadisch blicken lassen, ihr altgedienter Anatom wird sich irgendwie daran halten, wie ich meiner Mutter auch immer irgendwie nicht zu sehr im Weg war. Also ich erinnere mich einer Ausnahme. Jan, oder war es Astrid, saßen am Esszimmertisch und Mutter bügelte den ersten Berg von drei Wäschebergen ab. Ich saß oder lag auf dem Boden, auf dem roten Teppich und spielte, falls meine Mutter mich nicht sehen konnte, mit meinem Zeh oder mit einem Spielzeug, falls sie mich sehen konnte. Mutter erzählte Astrid, oder war es Jan, vom Krieg. Seit ich denken kann, wurde in dem Haus vom Krieg erzählt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir ohne den Krieg nicht wären und dass der Krieg etwas war, wo die Menschen ihre Dummheit beweisen durften, so mein Vater, ihre Erbärmlichkeit offenbart hatten, so meine Mutter. Die genaueren Zusammenhänge verstand ich nicht. Aber das sonntägliche Essen und die Erzählungen vom Krieg gehörten jedenfalls für uns Kinder zusammen und Jan, Astrid und ich kannten die meisten Geschichten meines Vaters auswendig. Begann er einen Satz, beendeten wir ihn und lachten und er musste nicht mehr weiter erzählen. Über die Jahre blieben dann nur diese ersten Sätze und wir hatten tatsächlich vergessen, wie die Geschichte weiter gegangen war. Ich glaube, er hatte es auch vergessen. Mutter erzählte eher selten. Lieber von ihrem Vater, der stark und erbarmungslos gewesen sei. Gut. An diesem Nachmittag erzählte Mutter. Sie sei auf der anderen Seite des Dorfes im Wald gewesen. Ich sagte ja schon, dass wir auf dem Dorf lebten, oder? Mit einigen Freundinnen sei sie im Wald spazieren gegangen. In unserem Dorf gab es eine Bahnlinie. Und die sei vom Ami beschossen worden. Von Flugzeugen herunter. Später sei der Ami dann über den Berg gekommen. Aber an diesem Tag sei er eben aus den Wolken gefallen und er habe vom Himmel herab den Wald beschossen. Meine Mutter und ihre Freundinnen hätten Angst gehabt, sagte meine Mutter, ohne den Tonfall zu verändern und ging den zweiten Wäscheberg an. Astrid, oder war es Jan, schwieg. Ich blieb in Deckung hinter dem Tisch und steckte meine Finger zwischen meine Zehen, falls die anderen mich nicht sahen. Oder schob schauspielernd ein Auto um ein Stuhlbein herum und tat so, als würde ich spielen, falls sie mich sahen. Da seien sie aber um ihr Leben gerannt. Kreischte meine Mutter, Vaters lange Unterhosen bügelnd. Jan, oder war es Astrid, sagte nichts. Ich rammte das Auto gegen das Stuhlbein. Gerne hätte ich geschrieen, Krankenwagen bitte, aber ich blieb still, sonst wäre nicht der Krankenwagen gekommen, sondern etwas ganz anderes. Jan und Astrid, ich glaube nun doch, es waren beide, und ich glaube auch, Mutter war schon bei den Sacktüchern, die Vater so gerne mit vier Knoten auf dem Kopf trug oder in die er trompetete, als wolle er persönlich den Ami hinter den Berg zurück treiben; Jan und Astrid blieben fragend stumm, starrten aber Mutter an, die ihrerseits die Wäsche anstarrte, die noch in anderthalb Bergen gestapelt und ungebügelt dalag. Mutter erzählte nichts weiter. Gerannt seien sie eben. Was hätten sie sonst machen sollen. So wären die Zeiten eben gewesen. Gerannt um ihr Leben. Aber das sei vergangen und jetzt seien andere Zeiten. Jetzt würde einen ein solcher Unsinn nicht mehr vom Arbeiten abhalten. Ich lag vor meinem Tisch u. nuckelte an meinem Zeh und sah Spielzeugflugzeuge in Zeichentrick umher fliegen. So hatte ich es bei Tom und Jerry im Fernsehen gesehen oder bei Schweinchen dick. Ein kleiner schnurrbärtiger Typ schoss und meine Mutter, gezeichnet und mit Bügeleisen in der Hand, und ihre Freundinnen rannten aus einem einfach hingepinselten Wald hervor. Das Männchen im Flugzeug fluchte. Meine Mutter und die Freundinnen kreischten, wobei sie sich die Hände vor den Mund hielten. Dann kam ich mit meinem Spielzeugauto und der bärtige Ami flog mir hinterher. Was weiter geschehen sollte, dazu reichte meine Fantasie nicht. Astrid und Jan sagten nichts. Oder sie sagten, wie müssen jetzt Hausaufgaben machen. Und ich wusste, sie würden in ihrem Zimmer Musik hören. Ich wäre gerne mit ihnen gegangen. Aber ich blieb auf dem Teppich, nahm die Zehe aus dem Mund und ließ Spielzeugautos gegen die Stuhlbeine knallen. Vater war ja nicht da. Er sah das nicht gerne. Und dann sah ich zu, wie niemand kam, kein Krankenwagen, keine Polizei, keine Feuerwehr, nichts. Sie mussten verbluten, falls ich schon wusste, was das war. Oder zumindest allein bleiben. Das kannte ich schon. Und wenn meine Mutter fertig mit Bügeln war, rauchte sie eine Zigarette, sah den vorbei fahrenden Autos zu. Der Rauch roch gut. Sie machte sich dann ein Brot u. schälte mir einen Apfel, den ich damals ungern aß, u. wir setzten uns vors Fernsehen. Die Vorabendserie begann. Um 8 Uhr übernahm Vater den Fernseher und Mutter ging ins Bett. Jetzt hätte ich mich am liebsten in ein anderes Haus verzogen. Aber es half nichts, ich musste auch ins Bett. Ich drückte meinen geschorenen Teddy an mich, aber er tat gerade so, als könne er nicht sprechen. Oder hatten Sie ihm das, Frau Kommissarin, verboten. Später schwärmte Mutter von amerikanischen Schauspielern, wenn sie Fernsehen schaute. Was sie so schwärmen hieß. Was sie so Schauspieler hieß. Was sie so amerikanisch hieß. Also sie schwärmte von James Dean. Vater sagte, James bedeute Jakob auf Englisch. Der habe es so schwer gehabt, murmelte Mutter, nicht auf Vater achtend. Der Ami, der über den Berg gekommen war, habe sie gefragt, so sagte Jan später, ob sie nicht mitkommen wollte. Sie habe nein geantwortet. Deshalb gab sie sich wohl die Schuld, dass es James Dean in „Jenseits von Eden“ so schlecht gegangen ist. Dass er keinen Trost gefunden habe und doch wahnsinnig geworden sei. Dass er selbst, der Schauspieler, wahnsinnig gewesen sei. Dass er deshalb so jung gestorben sei. Dass ihn deshalb alle liebten. Heute glaube ich, Mutter hat ihn, James Dean, darum beneidet. Bei ihr hatte es nur zu Gallensteinen gelangt. Aber das wusste ich damals noch nicht. Zwar schon Anatom, man erinnere sich des Spiels mit den Zehen, war ich doch noch nicht auf allen Gebieten bewandert. Was glauben Sie, warum ich nicht wollte, dass man mich hinter dem Tisch erspähte. Wenn ich einst gänzlich bewandert sein werde, komme ich hinter meinem Tisch hervor. Ich war so lebensfern, als wäre ich nur eine Zeichentrickfigur gewesen, die erst nach einigen Sekunden merkt, dass sie in der Luft hängt, und dann erst merkt, dass sie träumt, und dann erst merkt, dass sie im falschen Film ist.


Die Kost der Nadelspitzen 11 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Eines Sonntags sagte Jan, komm. Er hatte seine Rollschuhe, Diskoteile in blaugelb, in der einen Hand und einen olivgrünen Militärrucksack in der anderen. Lass uns mit dem Rad zur Autobahn radeln und dort Rollschuh laufen. Die Autobahn war 10 km entfernt. Vater fuhr darauf stets mit vollem Tempo auf die Ausfahrt zu u. bremste erst im letzten Moment ab. Du spinnst, sagte ich zu Jan. Er lachte. Hast du nicht aus dem Fenster geschaut. Hatte ich. Na und. Sagte ich. Es fährt kein Auto. Das ist doch normal in dieser Straße. Er lachte. Was hatte er bloß. So war er sonst nie. Nichtsdestoweniger packte auch ich meine Rollschuhe, ebenfalls im Diskostil blaugelb, ein und wir radelten los. Mit Mutter waren wir eine Zeitlang sonntags ins nächstgelegene Freibad geradelt. Das hatte was von einer Safari gehabt u. wie von einem Ausflug in eine andere Welt. Sie lächelte, als kenne sie die Welt. Dabei wurden ihre äußere Welt in Wirklichkeit immer kleiner u. ihre innere immer größer – wie auch der Berg der Pillen, den sie täglich schluckte. Gegen die Angst. Sagte sie. Tatsächlich hatte ich bei diesen Ausflügen das Gefühl, in eine Vergangenheit zu radeln, nicht an einen anderen Ort. Tatsächlich. Es fuhren keine Autos. Die Straßen waren leer. Das machte mir Angst. Jan strahlte über das ganze Gesicht. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Wir radelten durch den Wald. Es war Sonntagswetter. Weder Sonnenschein noch richtig düster. So zwischendrin. An solchen Sonntagen lief ich normalerweise sinnlos im Haus umher. Von meinem Zimmer ins Wohnzimmer. Schaute einige Minuten einen Schwarzweißfilm im Fernsehen an, Don Camillo oder Theo Lingen, ging dann ins Bad, saß auf der Kloschüssel rum, ging in der Garten u. betrachtete meine Uhr u. zählte die Sekunden des Sekundenzeigers mit u. probierte nach einer Weile, wie weit ich sie schon wieder aufziehen kann. Die Uhr war die alte von Vater. Golden mit dünnen Zeigern, die im Dunkeln leichten sollten, es aber nicht taten. Nur ein altes Paar spazierte im Wald und grüßte gepresst. Wir erreichten die Landstraße. Einige Kinder spielten hier Fußball und schrieen. Die Schreie klangen ohne das vertraute Autogeräusch sehr seltsam. Es fehlte etwas. Es verhallte. Nicht so wie in einer verschneiten Nacht, eher metallen. Blechern. Mit harten Kanten, wie in einer Halle, der das Dach fehlte. Wir fuhren weiter. Den Zubringer entlang, die enge Kurve hinauf u. wir standen tatsächlich mitten auf der Autobahn. Nach beiden Seiten Leere. Als habe jemand die Straße abgelegt und vergessen. Gespenstisch. Ich hatte Angst. Jan lehnte sein Rad gegen die Leitplanke in der Mitte. Ich trat vorsichtig auf, als ginge ich auf dünnem Eis. Hab dich nicht so, schrie Jan. Ich stellte mein Rad hinter das seine und zog mit flauem Gefühl im Magen meine Schuhe aus und meine Rollschuhe an. Ich hörte ein Schreien. Ein Freund von Jan kam auf Rollschuhen auf der Überholspur den Hügel herab gerollt. Der Freund drehte sich und bremste gekonnt mit seinen Stoppern. Der Freund gab mir einen Klaps auf die Schulter. Na Kleiner! Ich antwortete nicht. Die beiden sausten los u. ich mühte mich ab, ihnen zu folgen. Ich schaute nur auf die Leitplanke u. hielt mich strikt parallel. Als ich aufschaute, waren die beiden verschwunden. Ich wollte weinen, aber es ging nicht. Ich fuhr zurück. Meine Knöchel taten mir weh. Ich wartete bei den Rädern. Zwei Stunden später kamen die beiden zurück. Klasse, was? Sagte Jan. Ich sagte nichts. Wir radelten zurück. Die beiden vorne, ich dahinter. Was ist mit dem, fragte der Freund. Das weiß nie jemand so genau, antwortete Jan. Mir tat der Bauch weh. In der Nachte träumte mir von einem Menschenstrom, der sich durch eine Kanalröhre ergoss. Am Ende dieser Röhre brauste ein heftiger Wasserfall, eine Wand aus fallendem Wasser, undurchsichtig, monströs, verlockend. Da sollten alle hindurch. Dahinter sei die Rettung. Ich wurde im Traum auf die andere Seite geführt. Ich war nicht Teil des Stromes. Ich sah die Maschinerie. Hier drehten sich stählerne Rotoren und zerhäckselten die, die durch den Wasserfall schritten und in die Rotoren fielen, sie lösten sie quasi in Nichts auf. Nicht wieder erkennbar. Komplette Auflösung. Ich sah die Scheren stillstehen. Obwohl der Menschenstrom nicht abgerissen hatte. Aber auch der war wie eingefroren. Die Wände der Kanalisation glänzten wie die Haut von in Öl gemalten Fischen.


Die Kost der Nadelspitzen 12 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Einmal war Großmutter zu Besuch. Großmutter Maria. Großmutter war noch im 19. Jahrhundert geboren worden. Großmutter trug immer ein Kopftuch, um, wie Vater sagte, ihren Dickschädel warm zu halten. Großmutter was seine Schwiegermutter. Wenn sie zu Besuch war, schlief sie bei mir im Zimmer und Jan bei Astrid. Großmutter ließ sich nichts sagen. Ihr Mann war lange vor ihr gestorben. Weitere Großeltern hatte ich nicht kennen gelernt. Jan und Astrid auch nicht. Wenn Großmutter kam, half sie Mutter in der Küche. Wenn Großmutter kam, sagte sie, Johann, hol mir von deinem Obstler. Großmutter trank gerne Schnaps. Zwetschge oder Pflaume oder Birne. Astrid hatte mir später erzählt, Großmutter sei ihrem Mann oft ausgebüchst und habe sich in den Kneipen herum getrieben. Großmutter sah aus wie eine alte Hexe, vor der man sich aber nicht fürchten musste. Sie war eine Hexe, die das Böse abhielt. Aber die auch in allem das Böse sah. Sie wollte nicht, dass ich alleine in den Wald spielen ging. Sie wollte nicht, dass ich an meinen Lippen spielte oder an meinem Pimmel. Eins war ihr so schlimm wie das andere. Großmutter erzählte nicht vom bösen Wolf. Sie erzählte von Nachbars Hund und dass man sich vorsehen müsse, weil der schon so manchen gebissen habe, und dass die Bisse gefährlich seien. Mit Großmutter schlichen wir uns immer an Nachbars Haus vorbei. Wegen Großmutter hatte ich bei Nachbars Haus immer Herzklopfen. Astrid rannte stets so schnell sie konnte an Nachbars Haus vorbei. Der Hund, ein Schäferhund, wurde in einem Käfig gehalten. Eines Nachmittags wollte Großmutter mich zu einer Verwandten, die ich nicht kannte und an die ich mich auch nicht mehr erinnern kann u. von der ich nicht weiß, ob es sie je gegeben hat, mitnehmen. Wir sollten pünktlich sein. Wir standen vor unserer Haustür. Sie trug ihr Kopftuch und einen dicken Mantel. Raureif lag über allem. Ich steckte in einem dicken Parker und unter einer lästigen Mütze, unter der die Haare juckten. Wir sahen, dass der Käfig offen stand. Man sah in Nachbars Garten. Ich sah den Raureif auf den blätterlosen Sträuchern. Großmutter drückte meine Hand. Wir mussten gehen. Aber was, wenn der Hund käme. Großmutter sagte nichts. Sie schaute nur. Schaute und schaute. Und dann gingen wir. Rasch und bestimmt. Der Hund kam nicht. Aber er hätte kommen können. Großmutter sagte, dass er nicht weit habe sein können. Von diesem Tag an traute ich dem Käfig nicht mehr. Großmutter sagte, ihr Mann, würde er noch leben, hätte diesen Hund längst erschossen. Großmutter behauptete bei einem Glas Schnaps, den sie mit dem fernen Verwandten trank, der Hund habe Tollwut. Ich wusste nicht, was das ist. Sie sagte, dadurch habe er Lust, jeden zu beißen. Und dann bekomme derjenige auch Tollwut. Ich dachte, aha, dann werde ich also auch zu einem Hund. U. dann will ich auch Tollwut haben. Und dann habe ich auch Lust, jeden zu beißen. Und ich fletschte die Zähne unter dem Tisch, unter dem ich spielte, während oben meine Großmutter Schnaps trank. Unter dem Tisch fühlte ich mich sicher. Dass ich auf dem Rückweg vor Angst fast gestorben bin, ist eine andere Sache. Aber von da an hoffte ich fast, der Hund möge mich beißen. Dann wäre ich auch ein Hund und niemand könne mir mehr was und ich würde durch den Wald streifen und die Menschen, die sich darin verirrten, beißen. Vater und Mutter durften wir von der Geschichte nichts erzählen. Vater saß im Esszimmer. Mutter in der Küche. Jan und Astrid saßen auf der Fensterbank. Großmutter saß im Wohnzimmer und hatte sich ein Gläschen eingeschenkt. Gegen die Kälte wie sie sagte. Und für den Magen. Auch das sagte sie. Vater sagte nichts. Mutter auch nicht. Ich stand an der Spüle. Oder saß ich auch auf der Fensterbank. Neben Jan. Ich weiß es nicht mehr. In meinem Kopf bin ich Hund und bin dem Käfig entflohen und streife durch die Straßen und erschrecke die Kinder, die nicht mit mir spielen wollten. Entweder stand ich an der Spüle und spielte mit einem kleinen goldenen Kettchen, das ich sich immer wieder um meinen Finger auf- und abwickeln ließ. Auf und ab. Um den ausgestreckten Zeigefinger. Ich glaube, das tat ich. Ich war noch sehr jung. Vielleicht zweite Klasse Grundschule. Höchstens acht. Oder ich saß auf der Fensterbank und schaute hinaus. Mutter rauchte eine Zigarette. Ich atmete gegen die Scheibe, die im Rhythmus meines Atems beschlug. Ich bildete mir ein, es sei Zigarettenrauch. In das Weiße der beschlagenen Scheibe malte ich kleine Figuren. Tat ich das? Oder spielte ich mit dem Kettchen, ließ es sich auf- und abwickeln. Um den ausgestreckten Zeigefinger. An der Spüle stehend. Mutter sog den Rauch der Zigarette tief ein. Jan und Astrid starrten in eine Leere, die irgendwo in der Küchenmitte gewesen sein muss. Vater döste über seiner Zeitung. Großmutter schenkte sich noch einen Schnaps ein. Der Gesundheit wegen. Mutter drückte ihre Zigarette aus und sagte, ich solle damit aufhören. Jan und Astrids Augen fraßen sich in die Leere in der Mitte der Küche. Vaters Kopf sank auf seine Zeitung nieder. Großmutter stellte ihr Glas auf den Tisch. Es machte klack. Sie schenkte nach. Ich hauchte an die Scheibe und malte munter weiter. Oder ich ließ das Kettchen um meinen Finger kreisen, so dass es erst immer kleiner, dann, bei gewechselter Kreiselrichtung, immer größer wurde. Mutter sagte noch einmal: Hör auf damit. Ich verstand sie nicht. Ich tat doch nichts. Ich schlug nicht Jan. Ich zog Astrid nicht an den Haaren. Ich warf nichts auf den Boden. In meinem Kopf war ich der Hund, der unablässig wie das Sich-Wickeln des Kettchens oder das Hauchen des Atmens durch sie Straßen streifte, hungrig und gefährlich. Lachend, weil die Leute hinter den Fenstern standen und zitterten und nicht wagten zu atmen. Zornig, weil er Lust hatte, sie zu jagen und seine Zähne in ihre Beine zu schlagen. Ich hatte nicht gehört, wie Vater sich erhoben hatte. Ich hatte nicht gehört, dass Mutter noch ein weiteres Mal geschrieen hatte, hör auf. Vater kam aus dem Nichts des Esszimmers oder aus dieser Leere der Küche, in die Jan und Astrid gestarrt hatten, geschossen und schlug mich mit aller Kraft mitten ins Gesicht, dass mir das Kettchen aus der Hand fiel oder der Kopf an die Scheibe knallte. Er schrie, du hörst jetzt auf. Ich spürte nichts. Ich hatte den Schlag nicht gespürt. Aber ich hatte die Leere in der Küche gefunden. Ich war sozusagen zu ihrem Zentrum geworden. Zu ihrem Auge. Ich stand inmitten dieser Leere u. ich sah Jans und Astrids Blicke mich durchbohren. Ich hörte nichts. Ich konnte nichts fassen. Die Wände der Küche waren in unendliche Weite gerückt. Ich hörte Großmutter nicht mehr trinken. Ich roch den Rauch von Mutters Zigarette nicht mehr. Nur die Blicke von Jan und Astrid wollten nicht aufhören. Wie im Traum, wenn man kaum von der Stelle kommt, versuchte ich mich zu bewegen. Ganz langsam, wie ich meinte u. wie ich mich heute von außen sehe, ging ich ins Wohnzimmer. In meinem Kopf sah ich, wie Großvater, den ich nie gesehen hatte, den Hund auf der Straße abknallte. Er jaulte auf und schleppte einige Meter seine Hinterbeine hinter sich her. Dann schoss Großvater ein zweites Mal. Großvater hatte kein Gesicht. Ich setzte mich im Wohnzimmer an den Tisch. Ich hatte die Tür hinter mir abgesperrt. Bei uns steckte in jeder Tür der Schlüssel. Wir hatten die Gewohnheit, uns einzusperren. Vergaßen wir das, und Vater oder Mutter oder Jan oder Astrid oder Großmutter oder ich kamen unverhofft ins Zimmer, erschraken wir uns zu Tode. Ich sah nicht Großmutter. Sah nicht, wie sie sich ein weiteres Glas einschenkte. Ich hörte keinen Laut aus dem Esszimmer. Ich vergaß, dass wir eine Küche hatten. Ich setzte mich an den Tisch. Da lag eine Zeitung und da lag ein Kuli. Großmutter hatte Stift und Zeitung an die Tischkante geschoben, damit ihre Flasche und ihr Glas Platz hatten. Ich nahm den Kuli und schrieb Vaters Namen auf die Zeitung. In die Zeitung. Was in der Zeitung geschrieben steht, ist wahr. Und was wahr war, las unser Vater, der nichts Erfundenes mochte, geradezu verabscheute. In seiner Anwesenheit war es unmöglich, einen Spielfilm zu schauen. Er sagte, das ist doch Dreck, während Mutter mit James Dean oder Romy Schneider litt und Großmutter sich um ihre Gesundheit und ihren Magen kümmerte. Ich schrieb JOHANN. Dick und krakelig. Ich konnte noch nicht gut schreiben. Vater hatte mich meinen Namen schreiben gelehrt. Mit Mutter musste ich nachmittags verhasste Übungen machen. Wir saßen in der Küche und ich fühlte mich, als würde ich permanent bestraft. Um Vaters Namen zu schreiben, musste ich jeden Buchstaben extra zeichnen. Großbuchstaben. Ich schrieb IST. Und dahinter aller Schimpfwörter, die ich je gehört hatte. Nicht gehört hatte ich Großmutter. Sie war aufgestanden. Sie stand hinter mir. Ihr Atem roch nach Alkohol. Sie fuhr mir mit ihrer Hand durch meine Haare. Ich selbst hatte nicht bemerkt, sie hatte es aber wohl wahrgenommen, dass es aus meinen Augen auf die Zeitung tropfte. Ich konnte das nicht abstellen, obwohl es mir das Papier ruinierte, auf dem ich weitere Beschimpfungen hätte schreiben können. In Großbuchstaben. Die Lust des tollwütigen Hundes zu beißen. Nicht der Käfig der Küche mit Mutter. Ich mochte Großmutters Hand in meinem Haar nicht. Es war als ob ein Hunde fressendes Monster seinen Rachen aufgerissen hätte und seine Zähne um meinen Schädel gelegt hätte und es würde nun gleich zubeißen u. mein Schädel würde aufspringen wie die Samenkapseln am Waldrand, diese kleinen grünen Dinger, Rühr-mich-nicht-ans, die aufplatzten, drückte man sie leicht und es kitzelte an den Fingern. So würde mein tollwütiger Hundeschädel platzen und das Monster am Gaumen kitzeln, das so gar keine Angst mehr vor der Tollwut hatte, sie sich wahrscheinlich weggesoffen hatte, vielmehr würde das das Monster noch wütender machen, wie mich diese Samenkapseln wütender machen würden, weshalb ich alle Rühr-mich-nicht-ans mit einem Stock niedermachen würde, drauf und dreinschlagen und keine Pflanze verschonen würde. Vater hatte nie etwas zu dem Geschriebenen gesagt. Er hatte nie etwas zu dem Vorfall gesagt. Mutter auch nicht. Jan und Astrid ebenfalls nicht. Vater sprach die folgenden Jahre sehr wenig mit mir. Ich konnte die Strafe jeden Tag spüren. Er gab mir weniger Taschengeld. Mutter schaute mitleidig und gab mir ein bisschen mehr. Sie sagte, du Armer. Großmutter ist nicht lange darauf gestorben. Oder waren es Jahre darauf. Jedenfalls ist sie gestorben. Schläft nicht mehr, da sie nicht mehr kommt, mit mir in einem Bett. Zieht sich nicht mehr neben meinem Bett aus. Sie dachte dabei wohl, ich schlafe. Oder dachte sie es nicht. Schließlich sprach sie mit mir, bevor sie sich hinlegte. Dass sie sich im Schlaf nie drehen würde. Ich wusste es besser. Aber sie wollte mir nicht glauben. Ich sei nur ein kleiner Junge. Außerdem solle ich mir die Nase putzen, sonst würde sich der ganze Rotz im Kopf sammeln und irgendwann würde der Kopf dann platzen, weil er zu voll sei. Voller Angst zog ich noch mal schnell die Nase hoch und versuchte zu schlafen. Niemand erzählte mir ein Märchen, damit ich besser schlafen konnte. Märchen würden Kinder nur ängstigen. Hatte Mutter im Fernsehen gehört.


Die Kost der Nadelspitzen 13 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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Alles hat sich verändert. Jetzt da ich alt bin und meine Erinnerung dem Schnee am Ende des Winters vergleichbar ist. Hier und da findet man noch weiße Flecken oder gar weiße Felder vor. Dort haben Kinder einen Schneemann gebaut und es wird noch Wochen dauern, bis er weggeschmolzen ist. Am Straßenrand haben die Stadtarbeiter den Schnee von den Straßen und Plätzen aufgeschüttet. Erfahrungsgemäß lag hier noch im Frühling ein schmutziges Etwas, das erst dann, wenn man es anfasste, seine Identität als Schnee preisgab. Wanderer formen aus den Schneeresten Schneebälle und werfen sie einander über oder versuchen Schilder zu treffen. Die Kinder interessiert inzwischen das Schmelzwasser mehr, sie bauen kleine Kanäle und Seen und probieren die neusten Spielzeugbagger und ferngesteuerten Lastwagen mit den großen Vollgummirädern aus. Und doch erinnere ich mich an unser Dorf. Ich schaue keine Bilder an. Habe nicht die Broschüren des Heimatvereins zur Hand. Ich sah nicht die Bilder der zerstörten Häuser nach dem Krieg. Ich weiß nicht einmal, ob unser Haus noch steht. Ich weiß nicht einmal, ob es exakt da stand, wo ich meine, dass es gestanden haben muss. Mitunter bin ich mir nicht sicher, ob es überhaupt das richtige Haus war. Haben wir nicht ganz anders gewohnt? Waren wir nicht ganz andere? Habe ich das alles nur aus dem Fernsehen? Aus dem Kino? In einem Buch gelesen? Manchmal sitze ich da und versuche Erinnerungen zu sortieren, zu vergleichen und zu verifizieren. Aber dann verwirrt sich wieder alles und ich gleite auf einer Spur hinab in die Landschaften meines Gedächtnisses und tauche irgendwo wieder auf und bin dann wirklich nicht sicher, ob ich nicht eingenickt war und geträumt habe. Und doch sehe ich die Bilder vor mir, sehe die Wiese hinter unserem Haus vor mir. Darauf standen Kirschbäume. Wenn die Kirschbäume blühten, wurde Rosa zu meiner Lieblingsfarbe. Am liebsten hätte ich die Kirschbaumblütenblätter genommen und an alle Bäume und Wiesen und Häuser geklebt. Jan lachte mich dafür aus. Und Astrid traf sich mit ihren ersten Freunden unter diesen Bäumen. Vater sagte, schade um die vielen Früchte, die wieder verfaulen werden. Mutter sagte, wir sollen, wenn die Früchte reif sind, nicht von ihnen essen. Auf den Früchten laste ein Fluch. Auf genauere Nachfragen gab sie keine Antwort. Auch Großmutter nicht. Überhaupt war es sehr schwierig, Informationen von den Damen zu bekommen. Die Bäume und die Wiesen gehörten zu einem großen Grundstück, zu dem auch ein Wald gehörte. Vor dem Wald stand ein Haus, in dem seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte. Großmutter raunte mal etwas und Mutter flüsterte Astrid etwas zu und Jan filtert das wichtigste daraus heraus und sagte mir knapp: Das muss Ende der Fünfziger gewesen sein. Oder während des Krieges. Da sei was Schlimmes passiert. Jetzt war ich so schlau als wie zuvor. Mutter hatte uns verboten, in dem Wald zu spielen. Das Grundstück war durch keinen Zaun versperrt. Also spielte ich am liebsten in dem Wald. Wenn ich von der Grundschule kam, aß ich etwas, erledigte die Hausaufgaben und sagte, ich geh auf die Straße spielen. Mutter sagte, bleib aber bitte hier auf den Nebenstraßen. Schnurstracks schlich ich mich in den Wald. Streifte umher. Sammelte Tannenzapfen. Oder betastete das Harz an den Baumstämmen. Ich bekam es nicht mehr von den Fingern ab. Es roch komisch. Ich wusste nicht, ob ich mich davor ekeln sollte oder ob ich mir die Arme und das Gesicht damit einschmieren und mich auf den Boden legen sollte, damit die Blätter und Nadeln an mir kleben blieben, so dass ich mich endlich in einen Baum verwandeln würde. In der Schule erfuhr ich von anderen Kindern, die es von ihren Eltern gehört hatten, aber mit einer vorgehaltenen Hand und mit einer wegwischenden Hand, in dem Haus habe eine Familie namens Ofenschmidt gelebt. Die Ofenschmidts hätten viele Kinder gehabt, vier Mädchen und fünf Buben. Der Großvater habe mit im Haus gewohnt. Die Ofenschmidts seien wichtige Leute gewesen. Leute, zu denen unsereiner nicht gehen würde. Da würden andere verkehren. Haben die Kinder gesagt, bzw. hatten die Eltern den Kindern gesagt, die es mir gesagt haben. Jan sagte, er habe gehört, dass da was wirklich Schlimmes geschehen sei. Mit Tod und Verbrechen und so. Jan war sehr verschlossen. Ich hatte mit ihm nicht viele brüderliche Momente. In meinen Augen war er fantasielos. So dünn und gerade wie er war. Aber das Haus ließ auch ihn nicht los. Wir schlichen uns zusammen mal in den Garten. Wir sahen nicht viel, die Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Der Rasen stand kindshoch und zwischen den Steinen des Hofes drückten sich die ersten kleinen Bäumchen durch. Eines Nachts, als Großmutter zu Besuch war, traute ich mich und fragte sie nach den Ofenschmidts. Großmutter hatte viele Gläser Schnaps getrunken und dann konnte es geschehen, dass sie vergaß, dass ich ein Kind war, und sie sprach zu mir wie zu einem Erwachsenen. Ja, sie habe die Ofenschmidts gekannt. Vor dem Krieg sei die kleine Ofenschmidt, die damals noch anders hieß, wie habe ich vergessen, Großmutter wusste es, also die kleine Ofenschmidt sei oft zu ihr gekommen. Großmutter habe sie auf dem Fahrrad mitgenommen. Als Großmutter mit Mama schwanger gewesen sei, habe sie die kleine Ofenschmidt, die damals, ich sagte bereits, dass ich nicht weiß wie, tut mir Leid Frau Kommissarin, anders hieß, nicht mehr auf dem Fahrrad mitnehmen können. Denn die kleine Ofenschmidt sei doch ein aufgewecktes Mädchen gewesen, so meine Großmutter, und die habe doch immer nach allem gefragt. Und die hätte doch bestimmt auch nach Großmutters dicker werdendem Bauch gefragt. Und was hätte sie denn dann sagen sollen, es war doch vor dem Krieg und die Zeiten waren ganz andere, nicht so liederliche wie heute, wo es jeder mit jedem treibe, so meine Großmutter, die, wenn ich mich nicht irre, an diesem Abend mehr als eine Flasche Schnaps getrunken hatte. Ich wusste damals selbst noch nicht, was das war: schwanger. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Soviel hatte ich schon kapiert, dass es etwas mit den Babys zu tun hatte. Aber was und wie, ich weiß nicht mehr, was ich da wusste, aber ich glaube, es war doch eher meinen anderen Fantasien gleich, z.B. dem Fantasieland, in dem ich mich jeden Abend vor dem Einschlafen hineinträumte, wo man nicht aus Gläsern sondern aus abgeschnittenen und ausgehöhlten Füßen trank und wo alle barfuss laufen mussten und wo immer die Sonne schien und die Wege besonders sandig waren, weil sich das unter den nackten Füßen anfühlte, als wären Schokolade, Pudding und Marzipan eins. Ich ließ mir also gegenüber Großmutter nichts anmerken. Großmutter sagte, die kleine Ofenschmidt habe einen sehr strengen Großvater gehabt. Der habe Gildenstern geheißen. Sollte die kleine Ofenschmidt dann nicht auch so geheißen haben? Vermutlich schon. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Wie jetzt nicht wichtig ist, warum ich gerade den Harzduft in der Nase habe u. mich frage, ob ich mich je mit dem Baumharz eingeschmiert habe, ob ich mich nackig ausgezogen habe als Kind und mich am Baumstamm gerieben habe wie eine Katze und mich dann auf den Boden gelegt habe; und ob ich dann nicht irgendwann mir die Kleider drüber angezogen habe und es habe sich so ganz schrecklich u. doch auch irgendwie gut angefühlt und ob ich mich nach Hause geschlichen habe, mir habe ein Bad einlaufen lassen und mich gebadet habe und die Kleider zu den schmutzigen Sachen geschmissen habe. Egal, jedenfalls sagte Großmutter, dass man dem Großvater der kleinen Ofenschmidt, dem Großvater Gildenstern, dem habe man nichts erzählen dürfen, was irgendwie mit dem Körper zu tun gehabt habe, dann sei der fuchsteufelwild geworden, sei in den Wald gerannt, habe sich einen Ast gesucht, der als Gerte dienen konnte, und dann habe er seine Kinder und eben auch die Enkel über einen Schemel gelegt, ihnen die Hose runtergezogen und auf den Popo geschlagen, bis das Blut die Beine herunter gelaufen sei. Vater hat Jan und Astrid auch noch oft übers Knie gelegt. Aber er schlug nicht, bis es blutete. Zumindest erinnere ich mich nicht an Blut. Ich sehe nur fahles Fleisch wie tot so weiß. Außerdem schlug Vater mit der Hand. Einmal wollte er auch mich schlagen, aber ich entwischte ihm und sperrte mich im Keller ein, bis er sich beruhigt hatte und mich Großmutter, die gerade zufällig zu Besuch war, heimlich ins Bett führte. Hätte Großmuter, so reime ich mir das heute zusammen, der kleinen Ofenschmidt gesagt, sie, also Großmutter, sei schwanger, dann wäre die doch nach Hause gelaufen und hätte gefragt, was das ist, schwanger sein, und dann wäre doch der Großvater Gildenstern wütend geworden und hätte der kleinen Ofenschmidt den Popo verschlagen mit einem Stock aus dem Wald. Wäre sie dann nicht zu einer tollwütigen Hündin geworden u. hätte den Großvater Gildenstern gebissen, dass es selbst ganz blutig geworden wäre, aus seinen Augen hätte das Blut gespritzt wie aus den beiden Fontänen des Brunnens im Wald nahe der Autobahn. An den erinnere ich mich genau. Da fände ich heute noch hin. Ein andermal erzählte Großmutter, die kleine Ofenschmidt wäre dann die beste Freundin von Mama gewesen. Aber Mutter erzählte nie von der kleinen Ofenschmidt. Ich habe sie mal gefragt, aber da kam nichts, weniger als nichts. Das wäre vorbei u. man solle alte Geschichten ruhen lassen, sagte Mutter einmal. Vater schwieg sowieso oder erzählte andere Geschichten vom Krieg. In der Schule erzählte man sich, die Frau Ofenschmidt habe alle neun, oder waren es doch nur sieben, tot gemacht. Und dann hätten sie sich selbst tot gemacht. Ob der Großvater Gildenstern da noch lebte, weiß ich nicht, aber ich stelle mir vor, er habe sie alle mit dem Stock tot geschlagen und sich dann, so habe ich es einmal im Fernsehen gesehen, im Wald erhängt. Wenn ich mich mal wieder heimlich in den Wald geschlichen hatte, schaute ich die Bäume ganz intensiv an und prüfte, ob man sich an ihnen erhängen könne. Ich hatte Astrid gefragt, ob es stimme, was man sich an der Schule erzähle, dass die Ofenschmidts sich selbst tot gemacht hätten. Astrid sagte nur knapp, ja, das stimme wohl und dann schaute sie so komisch traurig, wie das nur Teenager können, wie ich heute glaube, mich erinnern zu können. Aber warum. Warum nur? Astrid wurde nun böse und sagte, das sei nichts für kleine Kinder. Aber es wäre irgendwas Schmutziges gewesen. Was Schmutziges, dachte ich damals. Ja haben sich die Ofenschmidt, fragte ich mich damals, auch mit Harz eingerieben und sich nackig auf dem Waldboden rumgewälzt? Haben die es wirklich getan, so wie ich glaube, dass ich es wahrscheinlich getan hatte. Wurden sie etwa von ihrem Großvater erwischt? Ich hätte nicht gewusst, was ich gemacht hätte, wenn mich Vater nackt im Wald erwischt hätte. Ich hatte ihn mal nackt erwischt. Er hatte, grand malheur, vergessen, die Klotür abzusperren. Ich machte sie wie in Gedanken auf u. er stand vor mit erigiertem Glied. Wirklich wahr, Frau Kommissarin. Kein Wort. Nur Stillstand. Wie tiefgefroren. Keine Ahnung, wie ich aus diesem Bild heraus gekommen bin. Einmal war eine Nachbarstochter mit mir im Wald dabei, wir waren vielleicht beide fünf Jahre alt. Es war sehr heiß. Wir machten beide Pipi. Danach habe ich mit der nie mehr gespielt. Da ging ich dann wieder alleine in den Wald. Alleine konnte ich schneller abhauen, wenn Vater kam, oder falls ich den Geist des alten Gildenstern an einem Ast hätte hängen sehen sollen. In meiner Kindheit umstanden mich die Geheimnisse, wie die Bäume dieses alten hängenden Manns mich umstanden, wenn ich mich verirrt hatte. Als Kind dachte ich, ich bin verwunschen. Und wenn ich nur weit genug laufe im Wald, trete ich durch ein Tor und alles wird anders sein.


Die Kost der Nadelspitzen 14 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )