Dienstag, 16. Februar 2010

32

Frau Kommissarin, es ist immer noch so: wenn ich mich jemandem gegenüber öffnen möchte, beschleichen mich die Bedenken, dass er oder sie genau das unbedingt wollen; dass ich, wenn ich diesen Willen erfülle, nichts als eine konformistische Drecksau bin; also verwehre ich mich dagegen. Es darf nichts rauskommen. Vor lauter „es darf nichts rauskommen“ mache ich mir so gut wie in die Hosen. Ich bin nicht weit entfernt von der Drecksau. Das wird mir das Gegenüber büßen. Aber kann ich ihm oder ihr das sagen? Wenn ich offen sein wollte, müsste ich es ihr sagen. Wenn ich offen sein wollte, müsste ich ihm oder ihr wie Jan ein Loch in den Kopf schlagen. Wenn ich offen sein wollte, müsste ich ihm oder ihr den Kragen vollschluchzen, wie ich mein Kissen in der Nacht vollschluchze, nachdem ich hineingewichst habe. So ist das, Frau Kommissarin. Und nun suchen wir gefälligst Indizien.

Und dann die Verständigen, die meinten, was ich für ein ach so hübsches und kluges Kind sei, die mich vollsülzten und einschleimten. Wie sollte ich denn die bittschön zu fassen kriegen? Wie sollte ich die überhaupt wieder von mir abkriegen? Die waren, als hätte man mir eine extragroße Flasche kotze-süßlichen Billigparfüms übergegossen. Ich brauchte eher den herben Wind einer rauen See; das Gefühl, wirklich berührt und angefasst zu werden. Und genau das war immer mein größter Wunsch, zu berühren und anzufassen. Die Seele zu berühren und den Körper wie ein Mann anzufassen. Nicht wie ein verlogenes Schwein. Leider war in meiner Umgebung niemand, der auf so was stand, ich meine, der es mir vorlebte. Jan wollte vielleicht berührt, aber nie angefasst sein. Ich würde eher sagen, er wollte eingeplant sein, eingeplant in das Leben eines anderen, so dass das seinen Sinn bekäme. Und Astrid wollte angefasst und nicht berührt werden. Sie wollte genommen werden. In ihren Augen mussten Männer Kerle sein, wild und einnehmend und, nun ja, beschützend, und nach Verwendung abschaltbar. Aber bestimmt nicht berührend. Sie sagte, von so was bekäme man auf der Seele Ausschlag. Und Jans Ausschläge waren allgemein sichtbar. Die kamen von Vaters Prügel.

Mit jedem Buch, das ich las, ging ich meinem Vater fremd. Ich las sogar die, die er vor allen versteckt hatte. Mit jeder Frau, und sei es Astrid, die mir Heimweh bescherte, betrog ich meine Mutter. Und diese beiden wollten, dass ich von mir redete. Ich hätte ihnen mein Fremdgehen beichten müssen. Lieber wollte ich für immer in die Fremde gehen. Lieber sollte die Fremde zu meiner Heimat werden. Sollte das Fremde dasjenige sein, das mir am vertrautesten ist. Denn die vertrauten Dinge und Menschen waren mir die fremdesten. Weil mein Vater und meine Mutter sich mir nicht zeigten, sich mir nicht zu erkennen gaben, fühlte ich mich durch alles, was ich erkannte, als Betrüger. Als Fremdgeher. Als einer, der in Erdlöchern lebt oder nackt durch den Urwald läuft.

Wenn ich bestimmte Sätze sagen wollte, fühlte ich mich, als wäre ich ein Leben lang intravenös ernährt worden; als hätte sich mein Mund noch nie geöffnet; als wäre nie Nahrung, Wasser oder gar Luft durch ihn gegangen; als hätte meine Zunge nie eine andere Zunge berührt. Meine Zunge war dann so empfindlich wie eine Wunde, eine gehäutete Stelle am Körper. Jede Berührung hätte unermessliche Schmerzen verursacht. In diesem Sinne war meine Zunge auch unschuldig. Jede Berührung hätte sie verdorben, sie mir im Mund verfaulen lassen. So blieb sie rosig und spielte sogar ab und zu mit meinem Gaumen. Das kitzelte so schön.

Mutters Seele hatte Körpergeruch. ich konnte in ihrer Nähe nicht atmen. Da konnte sie sich und uns noch so sehr waschen, das Haus schrubben und die Waschmaschine Tag und Nacht laufen lassen; da konnte sie mir noch so oft suggerieren, ich hätte Mundgeruch, es half nichts, ihre Seele stank. Sie pflegte ihre Seele nicht.


Die Kost der Nadelspitzen 32 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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