Dienstag, 16. Februar 2010

52

An einem Sonntagmorgen in einem heißen Sommer wurde ich sehr früh wach. Großmutter und Jan schliefen noch. Vater sägte in seinem Zimmer den Amazonas klein und Mutter stöhnte sich in ihrem unter der Last der Welt durch die Mühsal ihres allzu leichten Schlafes, aus dem sie aber nie erwachte. Ich schlich mich aus dem Haus. Ein seltsames Licht lag über dem Dorf und selbst um die wenigen fahrenden Autos war Ruhe, als kräuselten sie lediglich die Atmosphäre, so wie auf dem See leichte Wellen dahin zogen, von einem Schwan verursacht, den ich nicht mehr sah. Noch nie bin ich um diese Zeit um den See geradelt. Auf einer Wiese lag ein schlafendes Pärchen aus der Nacht. Er hatte seine Hand unter ihrer Bluse. Ihre Haare waren feucht. Sie waren wohl in der Nacht im See schwimmen gewesen. Neben ihnen lag eine leere Flasche Wein in der Wiese. Ich radelte weiter, den Kopf aber nach hinten gedreht, um das Paar so lange als möglich anzustarren. Ein Wunder, dass ich in kein Gebüsch gefahren bin. Ich fuhr über die schwarze Brücke, weiter auf dem roten Splitt-Schotterweg, vorbei an dem Brunnen. Ich umfahre die Schranke und radelte auf dem nassen Sandweg in den Wald hinein. Neben dem Weg ist morastiges Gelände. Äste senken sich in das sumpfige Wasser und Morgennebel steigt draus empor. Ich denke an nichts. Ich sauge die Bilder in meinen Kopf. Ich spüre in meinem ganzen Körper, wie die Räder durch den Matsch des Weges gleiten, wie Patzen zur Seite spritzen oder gegen mein Hosenbein und auf meine Schuhe. In den Ästen schreien Vögel. Ich radele weiter zu der alten Kneip-Anlage. Das Becken für die Arme ist voller Laub und das Wasser läuft über den Beckenrand, da der Abfluss verstopft ist. Man sieht zwischen dem schwarzen Belag einige blaue Stellen der Innenwand. Das Wasser rinnt an der Mauer herab und schlängelt sich in Rinnsalen in das Tretbecken hinein. Auch hier schwimmen unzählige Blätter auf dem Wasser, dicke, fette, alte Ahorn- und kleinere Buchenblätter. Ich ziehe meine Schuhe und Strümpfe aus und stelle mich ins eiskalte Wasser. Stiche ziehen mir vom Zeh bis unter die Kopfhaut. Der Boden ist glitschig und ich weiß, dass eine unvorsichtige Bewegung genügt und ich rutsche aus und falle komplett ins Wasser. Ich bleibe ganz ruhig stehen. Ich beobachte eine Elster, die von Ast zu Ast hüpft und immer wieder ihr weißschwarzes Gefieder schüttelt und ihrerseits mich beobachtet. Ich rieche die Erde des Waldes und ich rieche auch den Geruch des Sonntags. Manchmal fällt etwas aus den Bäumen auf den Boden und gibt beim Aufprall einen schnalzenden Laut von sich. Ich höre in der Ferne Kinder lachen und schreien. Aber nur leise und alsbald ist wieder nur der Wald zu hören. Ich habe keine Lust, mich zu rühren. Ich möchte für immer so stehen bleiben. Ich beobachte die Elster und die Elster beobachtet mich. Ich ertaste mit meinen Zehen den glitschigen Belag des Beckenbodens und höre, wie sich das Wasser vom Ellbogenbecken herabschlängelt und echsengleich über den Boden rennt, bis es ins Tretbecken patscht. Als ich wieder zu Hause bin und in die Küche komme, glaubt Mutter ich käme aus meinem Zimmer, und fragt betonungslos, ob ich gut geschlafen habe. Großmutter zischt, der ist doch schon länger auf. Warst du im Garten, fragt Mutter. Ich antworte betonungslos mit ja. Klarheit ist der Rausch des Flusses durch meine Seele.


Die Kost der Nadelspitzen 52 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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