Dienstag, 16. Februar 2010

43

Ich weiß, dass es der Kampf mit dem Tod ist, der mich vom Leben abhielt. Ich vergesse immer wieder die alte Weisheit, dass dieser Kampf vergebens ist. Dass man vielmehr um Liebe oder Sex oder für das eigene Leben kämpfen sollte. Wozu gegen den Tod kämpfen. Wozu die vielen kleinen Tode im Leben sterben, nur um dem Tod eine Nase drehen zu können und zu sagen, siehst du, du kannst mir nix. Denn es verhält sich doch so, Frau Kommissarin, so lange ich lebe, habe ich den großen Nasenlosen immer schon besiegt, weil er ja mein Vater war und meine Mutter war und weil ich ja überlebt hatte; weil ich in dem Moment, in dem ich hätte gehen sollen, blieb. Bis heute blieb. Und der Tod wendete sich beleidigt ab und ich suchte sein Gesicht, wie das Kind das Gesicht seiner Mutter sucht. Und wenn ich dann doch sterbe, nun, Frau Kommissarin, sollte man seinem Gegner nicht auch mal einen kleinen Sieg gönnen? Wollen Sie denn nicht auch mal gewinnen? Ich schon. Und hätte ich, endlich sein Gesicht sehend, dann nicht letztendlich doch gewonnen? Wie das Kind gewinnt, wenn die Mama nachgibt, es wieder anschaut oder das zum x-ten Mal auf den Boden geworfene Spielzeug wieder aufhebt und das Kind seinen Willen hat?

Verdammt zum Nichtstun konnte ich das nie: nichts tun. Erst wenn ich das kann, werde ich zum Nichtstun nicht mehr verdammt sein.

Jan und ich schlichen uns zweimal in das Haus der Ofenschmidts. Beim ersten Mal war ich noch sehr klein. Ich muss so vier, höchstens fünf gewesen sein. Den Wald hatte ich schon kennen gelernt und Großmutter hatte mir bereits einige seltsame Geschichten erzählt, die ich mir nicht hatte merken können, die aber ein seltsames Gefühl der Unwirklichkeit oder Anderswirklichkeit in mir hinterlassen hatten. Als gäbe es irgendwo und speziell im Zusammenhang mit diesem Haus eine andere Welt, ein anderes Dasein, ein anderes Leben. So wie man beim Fernsehen zu einem anderen Sender wechseln kann. Jeder Kanal steht für eine andere Qualität. Jedes Programm für einen speziellen Ausschnitt und für eine eigentümliche Betrachtung von Realität. Alles war für mich Realität, auch die Fantasie. Oder die Träume. Noch je ging ich jeder Erzählung auf den Leim und hielt sie für bare Münzen. Meine Erinnerung besteht aus baren Münzen. Mein Leben ist ein Haufen barer Münzen, zusammengekehrt und in Einmachgläser abgefüllt und in einem Schrank im Keller aufbewahrt. Jan hatte schon länger davon gesprochen, dass er das Haus der Ofenschmidts inspizieren möchte. Ich kannte das Wort nicht und fragte ihn, was es heiße. Unwirsch antwortete er: ankucken. Verstehst du das? Das verstand ich. Ich wusste was kucken ist. Davon konnte ich nicht genug kriegen. Wenn ich bei Vater im Wagen saß und wir durch Ortschaften oder über Land fuhren, presste ich mein Gesicht gegen die Scheibe, um näher am Gesehenen zu sein; um es besser aufsaugen, einsaugen zu können. Ich nährte mich vom Gesehenen. Den Bäumen, die wie große Federkiele am Straßenrand standen und die mir, wenn ich zurück blickte, nachwinkten. Oder die Lichter hinter den Fenstern der Häuser, an denen Menschen vorbei huschten oder an Tischen saßen. Oder nur die Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Vater wartete immer, bis die gesamte Scheibe zugeregnet war, bevor er den Scheibenwischer anschaltete. Die Tropfen vielen aus dem Nirgendwo und platschten auf das Nichts der Scheibe. Ich reckte meinen Hals. Vater ließ mich manchmal vorne sitzen. Wir fuhren durch die Nacht und die Straße roch nach Nässe und im Radio sprachen sie eine Sprache, die ich nicht verstand. Vater sagte, ein Schild, wenn ein Schild kam, oder eine Mauer, wenn da eine Mauer am Straßenrand stand, als müsse er sich das Gesehene durch das ausgesprochene Wort bestätigen; als wäre es ansonsten nicht da. Mir war das lieber, als wenn er von früher, vom Krieg erzählte. Ich konnte mir unter dem Krieg nichts vorstellen. Ich sah dann immer nur Schattenrisse vor einer Straße stehen, die irgendwann umfielen und die Straße unter sich begruben. Ich sah keine Gewehre, ich hörte keine Schüsse und ich schmeckte kein Blut im Mund. Aber wenn er sagte, eine Mauer, dann schmeckte ich den Mörtel unter der Zunge und es knirschte zwischen den Zähnen und ich spürte die Ritzen zwischen den Steinen, die ich mit meinen Fingern abtastete. Und sagte er Baum, fühlte ich meine Fingerkuppen über die Rinde fahren und ausprobieren, ob sie in die Zwischenräume passten. Fuhren wir bei Nacht und im Regen, verschwand die Welt und selbst die unbekannte Stimme aus dem Radio war keine Stimme mehr, sondern der Hintergrund, vor dem die Tropfen auf die Scheibe knallten und zerstieben und einen Tatzenabdruck hinterließen, der nach oben wanderte, bis ihn irgendwann der Wischer beiseite schob und ein neuer Tropfen aus dem Himmel drauf klatschte, einer neben den anderen, bis die Scheibe nur noch aus den Tropfen bestand, die es nie zu einer vollen Wasserfläche schafften, denn dauerte es auch unendlich lange, bis der Wischer kam, er kam unerbittlich. Ich schloss innerlich Wetten mit mir selbst ab, ob die Tropfen den Wettkampf gewinnen und sich verbinden und gewissermaßen eine zweite Scheibe bilden würden, hinter der Vater und ich verschwömmen wie die Decke im Badezimmer, wenn ich in der Badewanne untertauchte und die Augen nicht schloss. Es war klar, dass ich Jan begleiten werde. Natürlich wollte er mich nicht dabei haben, aber ich ging mit, kein Zweifel. Sonst würde ich ihn bei Mutter verpetzen. Und dann bekäme er Ärger. Das wusste er. Und er wusste, dass ich es machen würde. Er kannte meinen Dickkopf. Und meinen Willen. Und dass man mir nicht trauen konnte. Außer in der einen Sache, dass ich meinen Willen durchsetzen würde. Damals kannte ich die Angst noch nicht, Frau Kommissarin. Damals kannte ich nur die Neugierde und meine inneren Wetten. Oder vielmehr legte ich damals meine Angst auf Eis. Ich sagte, bezahlt wird später. Ich dachte mir, dass ich noch Zeit habe; dass ich ja noch Kind sei und dass die Rechnung erst später komme. Nach dem Ende der Kindheit. Aber die war ja noch quicklebendig. Und die flüsterte mir ein, dass ich unverletzlich sei. Mutter störte es zum Beispiel, dass ich die Nase nicht putzen wollte. Dass ich kein Taschentuch benutzen wollte. Ich sah das nicht ein, wenn es auch möglich war, die Nase einfach hochzuziehen. Warum ein Taschentuch. Ich wollte nicht tun, was sie sagte. Als wolle sie mir mich wegnehmen. Ich weigerte mich lange. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr. Aber Mutter hatte mir auch gesagt, dass mir irgendwann der Kopf platzen würde. Dass mir der ganze Rotz irgendwann die Augen aus dem Kopf treiben würde und sie heraus fielen wie faule Eier. Dass mir der Schleim die Ohren verstopfen würde und ich dann nicht mehr hören könne. Ich hingegen sagte mir, noch seien die Kammern in meinem Kopf nicht voll. Es würde bestimmt noch viele Jahre dauern, bis die Kapazitäten erschöpft seien und dass also noch keinerlei Grund zur Besorgnis bestünde. Ich war schließlich ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts. Und ebenso war es also ausgemacht, dass ich mit Jan mitgehen würde, ginge er zu Ofenschmidts Haus. Es war ein grauer Herbsttag. Windig und nasskalt. Wenn man länger draußen war und mit den Händen an einen Zaun stieß, tat es sehr weh. Und trotzdem schwitzte man unter der Jacke. Mutter hatte mir verboten, dann die Jacke zu öffnen. Ich tat es trotzdem, weil mich das Schwitzen ekelte. Regelmäßig bekam ich so einen Schnupfen. Jan sagte, ich solle die Taschenlampe nicht vergessen. Wir gingen nach dem Mittagessen los. Wir sagten, wir würden raus spielen gehen. Das genügte zumeist und Mutter fragte nicht weiter nach. Hauptsache wir waren vor Sonnenuntergang wieder zurück. Jan hatte in der Schule erfahren, dass die Kellertür von Ofenschmidts Haus nicht abgeschlossen war, dass man sie mit einem bisschen Druck öffnen konnte. Man sollte sie am Griff anheben und dann mit der Schulter aufstemmen. Die Kellertür war hinterm Haus. Eine Treppe führte hinab zu ihr. Hinterm Haus war ein Hof. Sandig. An manchen Stellen wucherte Gras. Eine große Wasserlache vor einem kleinen Sandhügel. Alles eher matschig. Ich sprang in die Pfütze, aber Jan rief, dass ich das unterlassen solle. Ich würde nur nasse Füße bekommen und dann anfangen zu quengeln und dann würde ich heim wollen und wir könnten das Haus nicht wirklich inspizieren. Er sprach das Wort mit Hohn in der Stimme aus. Es nervte ihn, dass ich dabei war. Ich war ihm peinlich. Ich funktionierte nicht nach seinen perfekten Plänen. Ich trottelte. Ich starrte Dinge an, die er uninteressant fand. Jan konnte die Tür nicht alleine öffnen. Wir stemmten uns beide dagegen, während er die Tür am Griff anhob. Beim dritten Versuch klappte es. Es roch modrig. Spinnenweben hingen vom Türrahmen herab. Ich hatte Angst vor Spinnen. Aber ich sagte nichts. Es hätte nur Jans Hohn verstärkt. Wir traten ein. Jan stolperte über einen Gartenschlauch und fiel hin. Er schrie. Ich schwieg. Ich lachte auch nicht. Ich wollte den Geruch nicht zu sehr einatmen. Ich versuchte die Luft anzuhalten, aber das gelang mir nicht für sehr lange. Und dann musste ich umso mehr diesen Gestank einatmen. Ich atmete durch den Mund, so roch man nichts. Aber dann tropfte mir der Speichel aus dem Mundwinkel. Wenn Jan das sehen würde, würde er sich drüber lustig machen. Wie er sich darüber lustig machte, wie ich Suppe aß. Ich hasste Suppe. Samstags gab es Bohnensuppe. Und die sah aus wie Nasenschleim. Und den hatte ich doch schon im Kopf in den Kammern, die sich jeden Tag mehr füllten, so dass jeder Tag ein Tag weniger von der Summe der Tage bedeutete, an denen ich unbeschwert leben konnte. An denen ich meinen eigenen Willen leben konnte. An denen ich mich noch nicht fügen musste und einfach nur ein ausführendes Organ wurde, so langweilig wie Vater, der jeden Tag das gleiche tat und der wütend wurde, wenn dem nicht so war. Ich wollte nicht langweilig werden. Und ich wollte nicht alle Tage dasselbe tun. Vor allem weil jeder Tag ein Tag weniger war von meinem Leben. Wie bei einer Eieruhr. Die untere Kammer der Eieruhr war die Kammer in meinem Kopf und die obere Kammer war mein Leben, das irgendwann leer gelaufen sein wird, nachdem es nur noch fadenscheinig gewesen war und nachdem dann so gut wie nichts mehr da gewesen war und ich so gewesen wäre wie Vater. Jan stand wieder. Weiter, rief er. Wir gingen in einen anderen Raum. An der Wand waren dicke Verputzblasen. Ich drückte mit dem Finger dagegen und die Blasen fielen in sich zusammen und bröselten zu Boden. Darunter war der nackte Stein. Jan sagte, das komme vom Wasser, das sich durch die Wände drückt. Augenblicks stellte ich mir vor, dass das Haus im Wasser schwämme. Das da ein unterirdischer See wäre, der gegen die Wände drückte. Dass Wasser, wenn man ein Loch in die Wand bohrte, in den Raum spritzen würde. Ich legte meine Handfläche gegen die Wand. Sie fühlte sich kalt und nass an. Am liebsten hätte ich meine Schuhe und Strümpfe ausgezogen und dann meine Füße gegen die Wand gedrückt, um sie zu spüren. Aber das ging nicht mit Jan. Ich musste noch einmal alleine hierher kommen. Ich musste schauen, dass wir die Kellertür beim Gehen nicht fest zuzogen. Jan öffnete die Tür zu einem anderen Raum. Darin war alles schwarz. Der Kohlenkeller, sagte Jan. Ich sagte, der Kohlenkeller, als würde das etwas Besonderes bedeuten. Ich drängte ihn vorwärts, aber Jan wollte diesen Raum nicht betreten. Ich sagte, hopp, geh. Er: Nein, nicht. Wir würden uns nur die Kleider schwärzen, alles sei mit Kohlenstaub überzogen und rußig. Das war mir egal. Kleider konnte man waschen. Und an Mutters Fragen dachte ich jetzt nicht. Das war später. Und später war nicht jetzt. Das war das einzige, was zählte, dass später noch nicht jetzt war. Ich zwängte mich an Jan vorbei und stolperte in den Heizungskeller hinein. Ich weiß nicht, über was ich gestolpert bin, aber jedenfalls bin ich hingefallen. Jan: Na bitte, jetzt haben wir den Salat. Hände, Hosen, Ellbogen, alles war schwarz. Ich kümmerte mich nicht drum. Ich sog den Geruch ein. Im Gegensatz zu dem ersten Raum, roch es hier, wie ich fand, gut. Ich konnte davon nicht genug kriegen. Es roch nach Erde, nach Stein und nach Asche. Es roch nach, so empfand ich, fremdem Planeten. Nach Mars, Merkur oder Jupiter. Es roch so anders wie alles, was ich kannte. Und doch roch es vertraut. Als hätte ich es schon immer gerochen. Als hätte ich den Geruch von jeher in der Nase gehabt. Jan zog mich aus dem Raum. Ich schrie ihn an, dass er das lassen solle. Dass er mich gefälligst nicht anfassen solle. Ich drohte ihm. Ich würde meine Hände an seiner Jacke abwischen, dann wäre er auch schwarz. Und dann fuhr ich mir mit der schwarzen Hand durchs Gesicht. Wischte meine Nase daran ab, während ich sie hochzog, und lachte ihn gehässig an. Ich fühlte Lust. Am liebsten hätte ich ihn in den Raum gestoßen und mich mit ihm zusammen im Kohlenstaub gewälzt. Ohne Kleider. Aber das war mit ihm nicht möglich. Mit ihm konnte man noch nicht mal im Winter barfuss im Schnee laufen und sich an den Abdrücken ergötzen. Es gab einen dritten Raum. In diesem Raum waren die Wände mal weiß gewesen. Auf dem Boden lag ein vergammelter Teppich. An der Wand verrotteten Stapel alter Zeitschriften. Jan wollte weiter. Ich dachte nicht daran. Ich wollte wissen, was im Schrank war. Ich öffnete alle Türen. Die Fächer waren leer. In einem stand ein altes Marmeladenglas mit rostigen Schrauben drin. Ich öffnete die Schubladen. Jan sah aus dem vergitterten Kellerfenster. Gras wucherte davor in die Höhe. Man sah nur Gras und Himmel. Jan blieb regungslos stehen. Ich beachtete ihn nicht. In einer Schublade fand ich eine Pistole. Sie war schwer. Aus Metall. Ich hatte zuhause eine aus Plastik für Fasching und eine Wasserpistole für die Badewanne oder für den Sommer. Ich nervte dann Astrid, die sich im Garten sonnte, damit. Sie schrie mich an, dass ich verschwinden soll. Ich spritzte weiter mit meiner Pistole, bis sie aufstand und mich bis auf die Straße jagte. Dort erwischte sie mich zumeist und versuchte mich zu hauen. Aber ich wehrte mich und spritzte ihr Wasser ins Gesicht. Einmal haute sie mir wirklich eine runter. Mitten ins Gesicht. Augenblicks fing ich an zu heulen und zu schreien. Ganz laut. Und Astrid war nur noch darauf bedacht, dass ich endlich wieder die Klappe halten würde. Sie hatte Angst vor den Nachbarn. Oder dass Vater sie deswegen ihrerseits hauen würde. Jan stand wie eine Statue vor dem Fenster, den Blick starr gen Himmel. Er trug eine Jeans, einen blauen Rollkragenpulli, den Mutter gestrickt hatte und seine Winterjacke. Eine rote Steppjacke. Er trug genau wie ich keine Mütze. Wir hassten Mützen. Wir wollten nichts auf dem Kopf haben. Wenn man, so wie wir, oft auf den Kopf geschlagen worden war, wollte man dort nicht mehr haben als den Wind. Noch eine Mütze erinnerte an die Schläge. Ich rief Jan zu, dreh dich mal um. Dann schoss ich. Es knallte. Und ich katapultierte mich in meinem Kopf in die andere Welt. Ich sah mich von außen. Ich sah von oben, wie Jan in sich zusammenbrach und zu Boden fiel. Er gab keinen Mucks von sich. Alles war so lautlos wie im Winter, wenn der erste Schnee gefallen war. Die Zeit hielt an. Die Eieruhr war auf den Boden gefallen und zerbrochen und der Sand lag verstreut umher. Das würde sich nicht mehr reparieren lassen. Der Zeppelin war vom Himmel gestürzt. Die Dorfwiese abgebrannt. Die Staumauer vom See im Dorf gebrochen und das Wasser ergoss sich dorfabwärts. Vater fuhr mit dem Auto gegen eine Mauer, weil ich die Pedale abgeschraubt hatte. Großmutter schlug mit dem Gesicht auf den Boden und blutete aus der Nase, weil ich das Bett unter ihr weggezogen hatte, als sie sich hinlegen wollte. All das stellte ich mir vor. Nein, sah ich. Wollte ich sehen. Sollte an die Stelle dessen treten, was gerade geschehen war. Ich hatte auf Jan geschossen. Ich hatte ihn erschossen, so wie im Fernsehen die Cowboys die Indianer erschossen hatten. Ich hatte meinen eigenen Bruder erschossen. Was würde man mit mir machen? Ich wollte davon laufen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Einfach weglaufen und sagen, ich wisse nicht, wo Jan sei. Ich sei doch nicht dazu da, auf meinen älteren Bruder aufzupassen. Er müsse doch auf mich aufpassen. Ja, wo er denn eigentlich sei und warum er sich nicht um mich kümmere. Schöner Bruder. Mir kam die Stille und Starre und Ruhe und der Abgrund wie eine Ewigkeit vor. Sie hatte wohl in Wirklichkeit nicht länger als ein Bruchteil einer Sekunde gedauert. Dann schrie Jan: Du blödes Arsch. Und er war wieder aufgestanden und hatte mir die Pistole abgenommen. Ich hatte ihn nicht getroffen. Ich hatte knapp an seinem Kopf vorbei geschossen. Die Kugel war in die Wand gedrungen und hatte ein dunkles, daumendickes Loch hinterlassen. Es klingelte mir in den Ohren. So still die Welt gestanden hatte, so schnell passierte jetzt alles. Jan nahm mich an der Hand und zog mich aus dem Haus und schleifte mich nach Hause. Dabei fluchte er leise vor sich hin. Ich verstand kein Wort. Er zischelte und spuckte und gluckste wie ein Radio, an dem man dreht, um einen Sender zu suchen. Ich sagte mir, dass das nicht passiert sei, dass ich alles leugnen werde. Aber Jan verpfiff mich nicht bei den Eltern. Er tat ebenfalls so, als sei das alles nicht passiert. Wir sprachen nie wieder davon. Es hatte nicht stattgefunden, Frau Kommissarin. Und doch weiß ich, dass ich diesen Taumel der Stille und Starre nach dem Schuss nicht geträumt hatte. Geträumt hatte ich, dass ich nicht schreien konnte. Und aufgewacht war ich mit einem erstickenden, abgewürgten Schreien. Aber ich versichere Ihnen, Frau Kommissarin, ich habe als Kind auf meinen Bruder geschossen. Es war eine große Lust in mir gewesen, als er da am Fenster stand. Ich sah in dem Moment Wassertropfen, die auf einen Spülschwamm fallen und darin verschwinden. Die Kugel wäre nichts weiter als ein solcher Tropfen gewesen. Und Jan wäre ebenso unverletzt geblieben wie der Schwamm. Die Kugel wäre wie ein Teil von mir gewesen. Die Pistole war in dem Moment des Schusses eine Verlängerung meiner Hand. Ich hauchte: pffft und die Pistole feuerte. Ich hatte den Schuss nicht gehört. Nur dieses pffft. Die ganze Welt war nur noch dieses pffft, das aus meinem Mund kam. Aus dem Mund eines vier- oder fünfjährigen Knaben, der in diesem Moment den Drang hatte, nicht nur einmal pffft zu machen, sondern immer und immer wieder, wie die unendliche Reihe der Tropfen, die die ganze Nacht über und den ganzen verdammten langen Tag über auf den Schwamm fallen und nicht in die Spüle. Lautlos. Und irgendwann läuft ein kleiner Rinnsaal Wasser vom Schwamm weg hin zum Abfluss und verschwindet darin, ohne abzureißen.


Die Kost der Nadelspitzen 43 © 2010 Klaus Peter Buchheit ( E-Mail )

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